Die Freiheit des Einzelnen endet... wo?

Sonntag, 29.01.2023

Mirko Matytschak

Der Spruch „Die Freiheit des einzelnen endet dort, wo die Freiheit des Anderen beginnt“ ist eine hohle Phrase ohne Sinngehalt. Ihre Äußerung ist eine Beleidung der Intelligenz der Menschen und ich möchte sie nicht mehr hören.

Wenn mir jemand mit diesem Spruch kommt, ist das ein Zeichen für mich, dass ich es mit einer Person zu tun habe, die noch nie wirklich nachgedacht hat.

Bevor ich mich jetzt in weiteren Beleidigungen ergehe, hier ein paar Gedanken dazu. Meine These ist: Wir leben in einer Realität, in der wir unseren Lebensraum mit anderen Menschen teilen. Daher müssen wir die Lebensäußerungen der anderen Menschen ertragen, zumindest in einem gewissen Maß.

Der Kindergarten muss weg

Nehmen wir einen Kindergarten. Er gehört zu unserer gesellschaftlichen Realität. Und damit auch der Lärm, der damit verbunden ist. Nun kann man sich darüber aufregen, welche Arschgeige auf die Idee kommt, einen Kindergarten mitten in eine Wohnsiedlung zu setzen. Dort, wo die Freiheit der Menschen, in Ruhe ihrem Vormittag zu verbringen, aufs schärfste von der Freiheit der Kinder, lautstark zu spielen, beschnitten wird. Die Lösung des Problems liegt auf der Hand: Man verlegt den Kindergarten aus der Wohnsiedlung an den Rand des Orts, gleich neben der Kläranlage. Da können die schreien, so laut sie wollen.

Das ist der Punkt: Eine Gesellschaft, die auf der sauberen Trennung der Freiheitsbereiche basiert, sodass alle Parzellen der Freiheit schön nebeneinander liegen, wird ihre Kinder neben die Kläranlage verbannen. Eine Gesellschaft, die auf der Überlappung der Freiheitsbereiche basiert, wird den Kindergarten dorthin bauen, wo er hingehört: In die Wohnsiedlung. Die Kinder mögen laut sein, aber ihr Spiel ist eine Äußerung der Lebensfreude, die eine freundliche Gesellschaft bejaht.

Die Bauern müssen weg

Bei uns in der Gemeinde haben die Bauern Narrenfreiheit. Sie fahren kurz vor dem Regenwetter Gülle aus, sodass sich die Gülle später wieder in den Bächen findet, und ihre Traktoren sind so laut, als ob es keine Beschränkungen für die Lautstärke von Fahrzeugen gäbe. Nun ist die Frage: Muss das sein? Ich fühle mich in meiner Freiheit durch ihre lauten und stinkenden Lebensäußerungen stark beschnitten.

Ich hätte theoretisch die Möglichkeit, diesen Sachverhalt gerichtlich klären zu lassen. Die Folge wäre eventuell eine Vorschrift, die das Ausbringen von Gülle reglementiert, sowie Grenzwerte für die Lautstärke von Traktoren. Diese Folgen wären aber immer noch ein Kompromiss. Ich werde nicht erreichen, dass gar keine Gülle mehr ausgebracht wird, genauso wenig, wie ich erreichen kann, dass die Lautstärke von Traktoren auf null zurückgeht.

Würde die Freiheit des Bauern dort enden, wo meine Freiheit beginnt, dann wäre der Bauer wahrscheinlich pleite. Ich muss also ein gewisses Maß an Gülle und Lautstärke hinnehmen, damit der Bauer weiter wirtschaften kann.

Es wird immer Auseinandersetzungen darüber geben, welches Maß das gerade richtige ist. Und mit den Kompromissen werden alle Parteien leben müssen.

Hand auf’s Herz: Wenn Du bis dahin gelesen hast: wirst Du jemals im Leben noch einmal diese Phrase benutzen?

Mal sehen, wohin uns diese Gedanken noch führen können.

Die Demonstranten müssen weg

Was die Kriterien dieser Auseinandersetzungen anbetrifft, so ist das häufig nicht so einfach. Es gibt Industrie, die die Umwelt belastet. Es ist wünschenswert, diese Industrieproduktion zu beenden. Aber es geht nicht von heute auf morgen. Andererseits: Wenn wir wie beim Thema CO2 keine Zeit und kein übriges Kontingent mehr haben, auf Kosten dessen eine weitere Belastung möglich ist, dann muss die Emission bald gestoppt werden. Und jeder Betroffene muss damit leben. Ihr seht also: Das richtige Maß zu ermitteln, ist oft nicht ganz einfach.

Nun ist unsere Gesellschaft, und vor allem die Politik, die ja Richtlinienkompetenz in unserer Gesellschaft hat, leider nicht rational (von Ratio: das Verhältnis, die Vernunft, also: die Dinge ins richtige Verhältnis bringen). Daher ist seit Jahren systematisch jede Änderung unserer Industriestruktur in Richtung CO2-Vermeidung verhindert worden. Da sich gegenwärtig immer noch keine nennenswerte Bewegung in dieser Frage einstellt, beginnen junge Menschen, uns darauf hinzuweisen, dass wir gerade im Begriff sind, die Lebensverhältnisse ganzer Generationen nach uns massiv zu beeinträchtigen.

Wenige Jugendliche beeinträchtigen in wenigen Aktionen eine gewisse Anzahl Menschen in ihren täglichen Geschäften, um darauf hinzuweisen, dass sehr viele Menschen im Begriff sind, alle Menschen der Folgegenerationen in ihren Lebensumständen zu beschneiden – und zwar massiv.

Ja, es gibt da eine Beeinträchtigung durch die jungen Menschen, die sich auf die Fahrbahnen kleben. Wir können uns jetzt auf die Phrase zurückziehen und einfordern, dass die bitteschön unsere Freiheit nicht beschränken, denn ihre Freiheit, zu demonstrieren, endet bei unserer Freiheit, freie Fahrt in Anspruch zu nehmen.

Können wir. Müssen wir aber nicht. Wir könnten es auch hinnehmen und zusehen, was wir für die kommenden Generationen tun können. Update 05.02.23: Das ändert sich selbst dann nicht, wenn einige der Klimademonstranten in den Urlaub nach Thailand fliegen und auch dann nicht, wenn der Sprecher der "Letzten Generation" dadurch in Erklärungsnöte kommt. Das weltweite CO2- Kontingent wird sich durch diese Ereignisse nicht nach oben verändern.

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