Eine Geschichte über Intelligenz

Dienstag, 20.02.2024

Mirko Matytschak

Ich schaue gerade ein paar Folgen der Serie Scorpion auf Amazon an. Ein Team von hochintelligenten jungen Menschen hilft der Homeland Security, besonders komplizierte Probleme zu lösen. Das Bild, das in dieser Serie von intelligenten Menschen gezeichnet wird, wirft bei mir einige Fragen auf.

Der Chef der Truppe, Walter O’Brien, hat in der Serie einen IQ von 197, dem – Zitat – „vierthöchsten IQ, der jemals gemessen wurde.“ Albert Einstein soll, so hört man in der Serie, einen IQ von 160 gehabt haben.

Die Figur des Walter wird in der Serie nicht gerade schmeichelhaft gezeichnet. Er ist ein Nerd, wie er im Buche steht. Er verfügt über eine kalte, hochentwickelte Intelligenz, seine menschlichen Qualitäten sind allerdings eher unterbelichtet.

Das ist ein Motiv, das ich in Filmen relativ häufig beobachte. Intelligenz wird mit einer Art Nerdtum assoziiert. Die Intelligenten werden wie der sprichwörtliche „hochfunktionale Soziopath“ dargestellt, als den sich Sherlock in der gleichnamigen Serie bezeichnet.

Das ist eine problematische Darstellung, die allem widerspricht, das mir von wirklich intelligenten Menschen bekannt ist. So können wir über Heisenberg erfahren, dass er statt als Physiker auch eine Karriere als Konzertpianist hätte anstreben können. Im Übrigen hat Einstein wohl ganz passabel die Geige gespielt.

Auch in meiner Umgebung sind die Menschen mit hoher Intelligenz eher kontaktfreudig, spritzig, witzig, geistreich und vielseitig in ihren Interessen.

Die Darstellung hochintelligenter Menschen als Freaks ist insofern problematisch, als Kinder und Jugendliche, die das sehen, der Entwicklung allzu hoher Intelligenz lieber aus dem Weg gehen, weil sie fürchten, zu kalten Unmenschen zu werden. Und wenn sie es nicht fürchten, dann tun das die Eltern für sie. Eltern streben für ihre Kinder Erfolg, aber nicht unbedingt Intelligenz an.

Es liegt hier eigentlich kein Problem mit hochintelligenten Menschen vor, sondern eher ein Problem der durchschnittlichen Menschen mit der Intelligenz. Die produzieren solche Bilder, um einen abschreckenden Effekt zu erzeugen, als einer Strategie, mit der sie ihrer eigenen Angst ausweichen können.

Das Problem ist also nicht, dass intelligente Menschen Nerds sind. Das Problem ist die Angst der anderen vor der Intelligenz. Wer möchte, kann hier das Krabbenkorb-Phänomen beobachten, was eine typische Eigenschaft von Menschen ist, aber interessanterweise nicht von Krabben, die durch die Metapher eher beleidigt werden.

Was ist Intelligenz?

Es wird Zeit, einmal kurz zu skizzieren, wie Intelligenz bestimmt wird. Dies geschieht mit Hilfe von Tests, in denen die Probanden eine Reihe von Aufgaben lösen müssen, die mit Mustererkennung zu tun haben. Das Design solcher Tests ist relativ kompliziert, um eine ordentliche Skalierung der Ergebnisse zu erzielen.

Entsprechend der Schwierigkeit einer Aufgabe wird der Lösung der Aufgabe eine bestimmte Punktezahl zugeordnet. Die Probanden haben einen bestimmten Zeitraum, um an der Lösung der Aufgaben zu arbeiten. Nach Ablauf des Zeitraums werden die Punkte der gelösten Aufgaben zusammengezählt.

Nun wird die Anzahl der Punkte in den tatsächlich erreichten Intelligenzquotienten umgerechnet. Der IQ folgt laut Definition einer Gauß-Verteilung, wobei der Mittelwert dem IQ von 100 entspricht. Um diesen Mittelwert zu bestimmen, muss der Test erst einmal in einer repräsentativen Studie ausgeführt werden. Oder, um es mit den Worten der Wikipedia zu sagen:

IQ-Tests sind so konstruiert, dass die Ergebnisse für eine hinreichend große Bevölkerungsstichprobe annähernd normalverteilt sind.

Aufgrund dieser vorausgesetzten Normalverteilung der Ergebnisse, lässt sich sagen, dass 68% der Bevölkerung einen IQ zwischen 85 und 115 aufweisen. (Wenn Ihr diesen Blogbeitrag bis hierhin gelesen habt, könnt Ihr übrigens für Euch von einem IQ von über 100 ausgehen.)

Intelligenz ist also laut Definition das, was sich mit Intelligenztests messen lässt. Dabei gibt es durchaus Probleme mit diesem Verfahren. Die durchschnittliche Intelligenz ist altersabhängig und das Ergebnis der Tests ist vom Intelligenzkonzept abhängig, das den jeweiligen Tests zugrunde liegt.

Darüber hinaus haben die Tests auch eine gewisse Fehlerquote, die in einem Gerichtsverfahren in den USA einmal mit 10% beziffert worden ist. Wer also einen gemessenen IQ von 115 aufweist, dessen IQ bewegt sich höchstwahrscheinlich im Bereich von 104 - 127. Wir können also einen IQ-Wert nur mit einem gehörigen Quant Salz degustieren.

Wenn der Durchschnitt der erzielten Lösungen 100 sein soll, muss die repräsentative Studie regelmäßig wiederholt werden, um den neuen Mittelwert zu bestimmen. Hier ist dann die Frage: Gibt es irgendeine Tendenz, sodass man sagen kann, dass die Intelligenz der Bevölkerung im Lauf der Zeit zu- oder abnimmt?

Diese Tendenz gibt es und sie wird Flynn-Effekt genannt. Die durch Intelligenztests gemessene Intelligenz nahm in den ersten drei Vierteln des letzten Jahrhunderts laut Studien des Herrn Flynn um 5-25% zu. Entsprechend musste die Auswertung der Tests regelmäßig angepasst werden. Seit den 2000er Jahren spricht man vom negativen Flynn-Effekt, der sich durch eine Abnahme der durchschnittlichen Intelligenz auszeichnet. Der Effekt beginnt wahrscheinlich schon Mitte der 90er Jahre

Praktische Intelligenz

Wir sehen also, dass das Konzept der messbaren Intelligenz etwas schwächelt. Aber es lässt sich das Vorkommen hoher Intelligenz durchaus beobachten.

Ich habe in meiner Jugend sehr viel Zeit mit meinem Freund Werner verbracht, der eine tolle Geschichte zu erzählen wusste.

Er erzählte mir von einer Schachpartie mit einem Klassenkameraden. Das Schachbrett stand auf dem Tisch, Werner saß davor und spielte gegen seinen Klasskameraden, der am anderen Ende des Zimmers auf der Couch lag. Er gab Werner die Züge an (Läufer nach E5 schlägt Bauer etc.), ohne auf das Schachbrett zu sehen. Währen der Partie stand er zwei- dreimal auf, schaute sich die Situation auf dem Brett an und legte sich wieder auf die Couch, um das Spiel weiterzuspielen. Und er gewann die Partie.

Er war also in der Lage, sich die Konstellationen auf dem Brett vor dem inneren Auge vorzustellen und verschiedene Varianten davon quasi abzuspeichern und wieder abzurufen. Wir können jetzt noch über den praktischen Wert einer solchen Schachpartie für das Leben der Beteiligten diskutieren. Aber es ist unverkennbar, dass der junge Mann über eine Fähigkeit verfügte, die weit über dem Durchschnitt der Bevölkerung lag.

Ich möchte betonen, dass der Klasskamerad von Werner sehr gut vernetzt war, über eine hohe soziale Kompetenz verfügte und im Klassenverbund eine Menge Freunde hatte.

Auch Werner und ich waren in unserem jungen Alter eher von der hellen Sorte. Unsere Stärke lag darin, in einem unglaublichen Tempo die Komik von Situationen zu erfassen. Wir waren Mitglied einer Jugendgruppe und es war uns ein Leichtes, alle Beteiligten über längere Zeit gut zu unterhalten. Das ging manchmal ein wenig auf Kosten der Beteiligten, aber das ist eine andere Geschichte.

Was stellt man mit Intelligenz an?

Was macht man mit solchen Anlagen? Ich war mit 14 Jahren sehr fasziniert, als ein Klasskamerad einen Vortrag über Einsteins Relativitätstheorie gehalten hatte. Die Frage, die ich mir damals stellte, war, wie er auf die Idee gekommen sein mag, sich für ein solches Thema zu interessieren.

Zwei Jahre später fragte mich ein anderer Klassenkamerad auf dem Schulhof: „Glaubst Du, dass Träume eine Bedeutung haben?“. Ich antwortete eher mit einem Gemeinplatz, der sich auf den Glauben bezog, dass Träume die Zukunft voraussagen können. Diesen Glauben teilte ich natürlich nicht. „Nein“, sagte mein Klasskamerad: „Es geht um die Verarbeitung der Vergangenheit in Träumen“.

Und dann erzählte er mir, dass er ein Buch von Sigmund Freud, dem Begründer der Psychoanalyse lese, mit dem Titel „Die Traumdeutung“. Ich war fasziniert und lieh mir das Buch aus. Es war hart zu lesen (vor allem, weil ich brav die ersten 100 Seiten an Literaturbetrachtungen über Träume durchlas, bevor ich endlich zu Freuds eigenen Gedanken kam). Aber es lohnte sich: Ich lernte, dass man Wissenschaft aus den Originalquellen lernen kann, ohne sich für ein Studium eingeschrieben zu haben. Das entfachte ein Feuer, dessen Energie mich durch die Lektüre von so manch höchst interessantem Buch führte.

Intelligenz ist im Übrigen etwas, das sich trainieren lässt. Das ist eine gute Nachricht: Wir können alle etwas tun, um unsere Intelligenz zu steigern und es ist nie zu spät, damit zu beginnen.

Eine KI wird uns alle ersetzen!?!

Gegenwärtig geht die Angst um, dass menschliche Intelligenz durch maschinelle Intelligenz ersetzt werden könnte. Ich teile diese Angst nicht, weil ich weiß, wie KI funktioniert. Die Angst vor den KIs wird befeuert durch den Erfolg der „Large Language Models“ (LLM) wie ChatGPT.

Hier werden Maschinen mit Millionen von Texten trainiert. Die Algorithmen verdichten diese Texte zu einer Art Gulasch. Dann legt man eine Suchanfrage an, und erhält aus den verdichteten Informationen ein Muster als Antwort.

Wenn Ihr wollt, könnt Ihr darin eine Art Intelligenz sehen, insofern, als das System wohl tatsächlich in der Lage ist, Muster zu erkennen, wobei dieses „Erkennen“ im Vergleich zur menschlichen Erkenntnis doch ziemlich primitiv ist.

Ich kann also Fragen an ChatGPT stellen und erhalte als Antwort etwas, das aussieht, wie eine gute Antwort. Wenn ich die Frage stelle: „Was sind die wesentlichen Aussagen des Kapital von Karl Marx“, dann erhalte ich eine gebildet klingende Antwort mit 5 Punkten, die sogar tatsächlich mit den im Kapital diskutierten Themen zu tun haben.

Eine Simulation von Intelligenz

Diese Ähnlichkeit mit einer gebildeten Antwort ist es, was viele Menschen dazu verleitet, die KIs zu überschätzen. Aber wer schon einmal versucht hat, ChatGPT eine mathematische Aufgabe vorzulegen, wird feststellen, dass als Antwort höchstwahrscheinlich kompletter Unsinn zurückkommt, der aber immer so klingt, wie eine mathematische Beweisführung. Solche Antworten nennt man KI-Halluzinationen.

Wir müssen uns alle klarmachen, dass die großen Sprachmodelle nicht wirklich die Fragen verstehen, die wir ihnen vorlegen. Stattdessen fischen sie in der Suppe der Trainingsdaten nach Informationen, die zum Muster der Fragen passen.

Die Hersteller der großen Sprachmodelle wissen natürlich über die Probleme ihrer Produkte. Aber statt den unsinnigen Ressourcenverbrauch, der mit den LLMs einhergeht, zu stoppen und sich Techniken zuzuwenden, die mehr Aussicht auf Erfolg bieten, arbeiten sie an der Verbesserung der Illusion, an der Verbesserung der Ähnlichkeit der Antworten mit tatsächlichen Lösungen.

Mit noch mehr Training und noch ausgefeilteren Feedback-Schleifen wird die Ähnlichkeit mit tatsächlichen Lösungen einen bestimmten kritischen Schwellenwert überschreiten, ab dem die Wirtschaft nicht mehr umhinkommt, sich rein aus Effizienzgründen auf die Ergebnisse von KIs zu verlassen. Man wird lernen, mit den allgegenwärtigen Halluzinationen der KIs umzugehen.

Wovor es mir graust, ist die Aussicht, dass diese Technologien demnächst für die Kriegsführung1 und für polizeiliche Ermittlungen eingesetzt werden2.

Dystopie oder menschliche Vernunft?

Eine KI findet, dass Du gegen das Gesetz verstoßen hast. Du wehrst Dich dagegen, doch eine KI im Gericht befindet, dass Du Unrecht hast. Es findet sich nirgendwo mehr eine Person, die genügend über den Vorfall weiß, dass sie beurteilen könnte, ob die KIs Recht haben oder nicht. Und wenn Dir irgendein Mensch glaubt, kann er die Entscheidung nicht rückgängig machen, denn eine solche Funktion könnte missbraucht werden, und daher lässt das System manuelle Eingriffe nicht zu.

Das ist die Dystopie, auf die wir gerade ungebremst zusteuern.

Es ist daher wichtig, zu erkennen, was die praktische menschliche Intelligenz ausmacht. Es ist nicht nur die messbare Mustererkennung. Die ist nur der Anfang eines komplizierten Vorgangs. Wo die KIs aufhören, fängt die eigentliche Intelligenzleistung der Menschen erst an: die Fähigkeit, zu verstehen, was wir erkannt haben.

Die Simulation von Intelligenz durch die KIs wird dazu führen, dass die menschliche Intelligenz immer mehr verkümmert. Das wird bis zu einem Punkt gehen, an dem die meisten Menschen nicht mehr in der Lage sind, eine Halluzination einer KI von einer tatsächlichen Antwort zu unterscheiden.

Die Lösung des Problems besteht darin, den negativen Flynn-Effekt zu stoppen. Die Reizüberflutung und Verdummung durch schlechte Fernsehprogramme und Social Media muss zurückgedrängt werden. Ich beobachte, dass immer mehr Menschen genau diesen Weg gehen: Die Verdummungsmaschinerie nicht mehr an sich heran zu lassen.

Aber am Wichtigsten ist: Die Angst vor echter menschlicher Intelligenz muss überwunden werden. Nur so können wir der Dystopie entgehen.

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1 Die USA verwenden für ihre Drohnentötungen in Afghanistan bereits KIs. Man ist sich der Fehlerquote bewusst, aber es ist ja egal, weil sich niemand um ein paar tote Afghanen schert.

2 Der Einsatz von KIs im polizeilichen und juristischen Bereich ist bereits auf dem Vormarsch, mit den zu erwartenden schlechten Ergebnissen.

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