Der diskrete Charme der Bourgeoisie

Montag, 22.04.2024

Mirko Matytschak

Meine Frau brachte eine DVD mit nach Hause, mit dem Film „Der diskrete Charme der Bourgeoisie“ von Luis Buñel. Ich sah den Namen und dachte mir: Das wird jetzt interessant. Wenn Ihr den Film nicht kennt: Dieser Beitrag ist eine klare Empfehlung.

Der Film wird hier ausführlich besprochen, schaut Euch das an, dann kann ich mir an dieser Stelle eine nähere Beschreibung sparen.

Durch die ständige Wiederholung ein und desselben Vorgangs, nämlich den Beginn eines Abendessens in Kreisen der gehobenen Bourgeoisie, wird uns die Sinnlosigkeit der Rituale vorgeführt, über die die Klatschpresse so trefflich zu berichten weiß (also über die Rituale…). Den Älteren unter den Lesern mag der Name Michael Graeter einfallen1. Die Idee der Wiederholung war von Anfang an als Kernelement in dem Film eingeplant und in diesen ständigen Wiederholungen schält sich mehr und mehr die Sinnentleertheit des Rituals aus der dürftigen Handlung.

Das Ritual als Selbstzweck

Wir können ohne große Mühe dieses Ritual aus den 70ern in die heutige Zeit übertragen, dann sind wir beim Promigeburtstag einer jetzt 50jährigen Person, die mit Gästen der gehobenen Gesellschaft in einem Londoner Nobelrestaurant feiert und auf dem Rücken ihres prominenten Ehemanns das Lokal verlässt. Man weiß von vorneherein, wie es abläuft und dennoch gibt es keine Abweichung vom Protokoll.

Interessant ist es, zu sehen, dass der einfachere Teil der Bevölkerung – wahrscheinlich aufgrund der Berichterstattung über solche Ereignisse – versucht, die Rituale nachzuahmen und das führte seit Mitte der 80er zu versnobten Ritualen in der „Mitte der Gesellschaft“. Leute aus meiner Bekanntschaft fingen auf einmal an, darüber zu dozieren, mit welchen Kniffen sie die perfekten Spaghetti kochen und wie viele Stunden ein bestimmtes Stück Fleisch im Ofen zu verbringen hat, um seine maximale Qualität zu entfalten. Das erinnert mich immer an den Witz:

„Herr Ober, ich hätte gerne ein Steak, aber gut abgehangen“. „Sehr wohl, der Herr, wie wär’s mit Mammut?“

Aber zurück zum Film. Er verarbeitet nicht nur das Ritual selbst, sondern eine Grundhaltung im Unterbewusstsein der beteiligten Personen: die Angst. Wir wissen, die Angst sucht sich die mannigfaltigsten Anlässe: Bakterien, Killerbienen, zu viel Sozialleistungen, etc.

Albträume als alterierte Realität

Im Film ist die Angst die Eingangstür in die Groteske, indem sie die Motive der Träume speist, die dann, als alterierte2 Realität, ein fürs andermal das gemeinsame Abendessen verhindern. Die Motive, die die Angst der Protagonisten im Film speisen, sind Themen aus der Lebensrealität derselben. Die Hauptperson, um die alle Episoden des Films kreisen, ist Botschafter von Miranda, eines südamerikanischen Landes mit einer durch und durch korrupten Elite, dessen Wohl dem Botschafter im Übrigen am Allerwertesten vorbeigeht.

Der Botschafter nutzt seine diplomatische Immunität, um nicht näher benannte Drogen ins Land zu schmuggeln. Seine illustren Freunde legen ihm einen Haufen Geldbündel hin, um an die Ware zu kommen. Das ist übrigens das einzig wirklich konkrete Element in diesem Film, sieht man einmal von der Absicht eines gemeinsamen Abendessens ab.

Die Träume sind zum Großteil Albträume und wenn sie es sind, drehen sie sich um genau diese Themen: Das Militär übernimmt auf einmal das Sagen – nicht in Miranda, aber an der abendlichen Tafel – und die Polizei nimmt die gesamte Runde fest. Sehr schön auch der Traum, in dem sich die Runde plötzlich in einem Theater befindet und alle Leute der illustren Tafelrunde zuschauen können. Die Themen werden gespeist von der Angst vor Aufdeckung der kriminellen Machenschaften der Protagonisten3.

Die Festnahme ist natürlich nur ein Traum, denn man kennt ja den Herrn Minister, der das in der Realität nie zulassen würde. Und so endet – nach noch ein paar albtraumhaften Unterbrechungen – die Geschichte mit der Vollendung der ursprünglichen Absicht: Die Gesellschaft kommt endlich zu ihrem Abendessen.

Nicht vergessen werden dürfen die regelmäßigen Einblendungen, die die gesamte Gesellschaft auf der Straße zeigen, zu Fuß auf dem Weg zu keinem bestimmten Ziel. Anfangs sieht man den Wasserturm in der Landschaft hinter ihnen, am Ende laufen sie wieder auf ihn zu. Sie wissen nicht, woher sie kommen, noch, wohin sie gehen. Ihr Lebensweg ist schlichtweg sinnfrei.

Eine intellektuelle Herausforderung

Es ist aus heutiger Sicht erstaunlich, dass ein solcher Film tatsächlich einen Oskar gewinnen konnte. Das wäre heute undenkbar. Aber damals, vor dem Hintergrund steigender Bildung und steigender Intelligenz in der Gesellschaft konnte man den Menschen eine Groteske ohne zusammenhängende Handlung präsentieren und darauf bauen, dass die Betrachter darin den Sinn erkennen – der in dem Fall eben in der Sinnlosigkeit lag.

Wer einen solchen Film dreht, braucht Mut, weil das Werk unbequem ist. Es erlegt dem Betrachter die Verantwortung auf, zu entscheiden, ob die Groteske Selbstzweck ist, oder ob man einen Sinn dahinter erkennen kann – und wenn ja, welchen. Es gibt keinerlei Hilfestellungen, allenfalls Anspielungen. Darin liegt die Herausforderung an den Intellekt des Betrachters.

In den 80ern hatten wir Herbert Achternbusch in Bayern, der auf wundervolle Art und Weise solche Art Filme produzieren konnte, nach denen ich regelmäßig ein paar Stunden brauchte, um mich wieder zu sortieren. Das war eine Herausforderung, die uns ein lautes WTF entlockte, bevor wir der Sinnlosigkeit einen Sinn zu geben vermochten – oder eben nicht. Es lag an uns.

Die Kultur scheint mir heute dagegen ziemlich einfältig geworden zu sein4. Es mag Leute vom Schlag eines Buñel oder Achternbusch geben, aber die kämen nie an ein ausreichendes Budget für ihr Werk, abgesehen davon, dass ihr Werk trotz Youtube & Co. nicht diese Verbreitung finden würde.

Denn die Welt versumpft in der eindimensionalen Betrachtung der Geschehnisse, in der klar ist, was gut und böse und wer der Feind ist. In einer Zeit, in der die Gesellschaft kollektiv daran arbeitet, sich an die Entbehrungen des kommenden Krieges zu gewöhnen, hilft die bildungsnahe Elite des Landes – selbst Kriegsdienstverweigerer in ihrer Jugend – mit, die richtige Einstellung zu finden, denn es soll ja nie wieder kein Krieg von Deutschland ausgehen.

Da kann man keine Menschen gebrauchen, die zu einer eigenständigen Interpretation eines Werkes fähig sind, die sich am Ende noch einer alternativen Weltsicht befleißigen. Das darf nicht sein. Daher wird seit den 80ern intensiv daran gearbeitet, den durchschnittlichen Intelligenzquotienten der Gesellschaft wieder zu senken. Wie man sieht: mit Erfolg.

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1 Wunderschön verarbeitet in der Rolle des Baby Schimmerlos in Kir Royal. Der Klatschreporter ist die Eingangstür in die Rituale der „gehobenen“ Gesellschaft, oder derer, die einfach nur dazugehören wollen.

2 Nach Prof. Moriarty in Next Generation, Sherlock Data Holmes: „Computer, alterieren!“.

3 Wer nun glaubt, dass das ja nur eine Groteske ist, die mit der Realität nichts zu tun hat, der vergisst, dass die Realität oft grotesker daherkommt, als der surrealste Film:

Over 2,000 shell companies have directors aged 123 years or older, Moody’s found.

Die Angst, dass völlig transparent zu Tage tritt, was da gespielt wird und wer da genau mitspielt, mag durchaus zu surrealen Träumen führen...

4 Ihr dürft mich gerne vom Gegenteil überzeugen. Ich bitte sogar darum.

Kommentare

1 Kommentar zu diesem Beitrag

Wolfgang Hofer · 24.04.2024 · Direkter Link

Ein sehr origineller Beitrag zu einem außergewöhnlichem Film, dessen feiner Humor vermutlich heute nur noch von einem kleinen Teil der Bevölkerung verstanden wird, was durchaus schade ist. Kein Film, den man laufend sehen will, der einem aber nachhaltig im Gedächtnis bleiben kann, wenn man sich darauf einlässt. Wirklich ein sehr interessanter Beitrag, aber ich wollte mich an sich nicht wiederholen ;-)