Worum geht es im Ukraine-Krieg?

Freitag, 25.02.2022

Mirko Matytschak

Russland führt Krieg gegen die Ukraine. Wladimir Putin wird deshalb bei uns als ein unberechenbarer Verrückter dargestellt, der andere Länder überfällt, um den Einflussbereich Russlands im Sinn einer Großmachtphantasie auszudehnen. Im Folgenden versuche ich, darzustellen, warum meiner Meinung nach dieser Krieg geführt wird.

Ich nehme im Folgenden eine strategische Perspektive ein, möchte aber vorausschicken, dass diese Art des Denkens mir absolut zuwider läuft. Aber es hilft nichts: Wenn wir die Ereignisse verstehen wollen, können wir uns nicht nur mit der eigenen Denkweise beschäftigen. Wir müssen verstehen, wie militärische Strategen denken. Dann können wir entscheiden, wie unberechenbar Putin tatsächlich ist.

Zerfall der Sowjetunion

Sehen wir uns einmal an, welchen Einfluss Russland als Sowjetunion im Rahmen des Warschauer Pakts auf die Länder Osteuropas ausgeübt hat. Die folgende Grafik veranschaulicht dies.

Ostblock

Nach dem Fall des Eisernen Vorhangs und dem Ende der Sowjetunion verlor Russland den Einfluss auf viele westlich liegende Nachbarn. Die „Gemeinschaft Unabhängiger Staaten“ war ein netter Versuch, aber die nun unabhängigen Staaten nutzten ebendiese Unabhängigkeit und lösten sich vom Einfluss Russlands. Sie kamen als Verbündete daher nicht mehr in Frage. Ich behalte im Folgenden die rote Farbe für das russische Einflussgebiet bei, weil sie sich ganz gut vom NATO-Blau abhebt.

Zerfall Sowjetunion

NATO-Osterweiterung

Die NATO hat nicht geschlafen und versuchte, so viele Staaten aus dem ehemaligen Ostblock zu einer Mitgliedschaft zu bewegen, wie es möglich war. In Polen oder den Ländern des Baltikums rannten sie damit offene Türen ein. Diese Länder hatten Befürchtungen, wieder unter den militärischen Einfluss Russlands zu geraten, wenn sich dort erst einmal die Verhältnisse ändern. Und die Verhältnisse änderten sich schnell, wie wir heute wissen.

Ein Aspekt zum Thema Osterweiterung ist die Frage, ob der Westen in den Zwei-plus-Vier-Gesprächen oder in der Russland-NATO-Grundakte versprochen hat, keine NATO-Osterweiterung vorzunehmen. Was auch immer in den Gesprächen an Versicherungen ausgesprochen wurde, Tatsache ist, dass kein solches Versprechen vertraglich festgelegt wurde.

Sehen wir uns also den Einflussbereich der NATO nach der Osterweiterung an:

NATO-Osterweiterung

Und nun strahlt sie in aller weißen Neutralität aus der Mitte der Karte hervor: Die Ukraine. Die Ukraine spielt nicht nur deshalb eine Rolle, weil sie neben Weißrussland der einzig verbliebene Staat in der Region westlich der Grenzen Russlands ist, der nicht der NATO beigetreten ist. Sie spielt deshalb eine Rolle, weil die Schwarzmeerflotte Russlands schon seit Sowjet-Zeiten auf der Krim stationiert ist.

Die Rolle der Krim

Das Schwarze Meer ist einer der wenigen Zugänge der russischen Flotten zum Meer. Der zweite Zugang ist im Norden St. Petersburg. Dieser Zugang weist einige Schwächen auf. Nebst der Tatsache, dass im Winter der Zugang für Schiffe eventuell gar nicht befahrbar ist, ist der Seeweg in die offene Ostsee sehr unsicher, vor allem wenn Finnland und Schweden der NATO beitreten würden. Dies zeigt die folgende Karte:

Seezugang im Norden

Vor allem der mögliche Beitritt Finnlands zur NATO bereitet der russischen Führung Bauchschmerzen. Die Verteidigung der Enklave Kaliningrad wäre im Konfliktfall nicht zu leisten. Doch zurück zur Krim.

Die Krim als Standort für die Schwarzmeerflotte ist unbrauchbar, wenn die Ukraine der NATO betritt. Diese Gefahr bestand nach der Wende für eine Weile wohl nicht so besonders. Das änderte sich schlagartig 2014. Mit Wiktor Janukowitsch wurde ein Präsident gestürzt, der die Ukraine in Richtung Russland positionieren wollte.

Wie konnte es überhaupt geschehen, dass ein russlandfreundlicher Präsident die Wahlen in einem Land gewinnt, das Jahrhunderte vom übermächtigen Nachbarn dominiert und besetzt wurde? Viel von der ukrainischen Kultur handelt von der Sehnsucht nach der Freiheit, die eigene Kultur leben zu können.

Die Rolle der Ostukraine

Aber zu Zeiten der Sowjetunion, vor allem zu Stalins Zeit, wurden absichtlich große Teile der Bevölkerung umgesiedelt, um nationalistische Tendenzen zu unterbinden. Stalin wollte nicht, dass Ukrainer sich als solche fühlten. Alle Menschen in der Sowjetunion sollten sich als Teil der Sowjetunion fühlen und nicht zu irgendwelchen Teilrepubliken zugehörig. Also wurde vor allem die Ostukraine mit Russen bevölkert. Die brachten ihre eigene Kultur und Sprache mit in die Ukraine.

Ich habe auf den Karten den Verlauf des Flusses Dnjepr eingezeichnet. Der Verlauf zeigt in etwa die Grenze zwischen der West- und der Ostukraine auf, wobei die Stadt Kiew klar zur ukrainisch sprechenden Westukraine zählt. Hier folgt die Trennlinie nicht mehr am Dnjepr entlang, sondern verläuft westlich von Kiew bis etwa zum Länderdreieck Russland/Weißrussland/Ukraine.

Wir haben also eine Menge russisch sprechender Menschen im Osten und Ukrainer im Westen. Meine Familie stammt übrigens ganz aus dem Westen der Ukraine, aus einem Gebiet, das nach dem 2. Weltkrieg Polen zugesprochen wurde.

Nach dem Zerfall der Sowjetunion wurde die Ukraine selbständig und die ukrainischen Nationalisten gewannen zunächst die Oberhand, aber nur knapp. Es gab auf der einen Seite Politiker, die vom Westen unterstützt wurden und eine Annäherung der Ukraine an die EU und die NATO verfolgten. Dann gab es Politiker, die eine Annäherung an Russland bevorzugten und daher von Moskau unterstützt wurden.

Die Schlacht ums Amt des Präsidenten

Es wurden erbitterte Kämpfe um das Amt des Präsidenten ausgefochten. 2004 wurde auf den westlich orientierten Präsidenten der Ukraine, Viktor Juschtschenko ein Giftattentat verübt. Gegner bei der Wahl 2004 war der damalige Ministerpräsident Janukowitsch.

Janukowitsch gewann die Wahl, aber aufgrund von Vorwürfen der Wahlmanipulation kam es zur sogenannten „orangenen Revolution“. Die Wahl musste wiederholt werden und der westlich orientierte Juschtschenko wurde Präsident.

Im Jahr 2010 gab es erneut eine Wahl und diese gewann diesmal der von Russland favorisierte Janukowitsch. Nun hatte Juschtschenko in den Jahren davor ein Assoziierungsabkommen mit der EU vorbereitet, das noch verabschiedet werden musste. Janokowisch als Gewinner der Wahl ließ das Projekt eine Weile liegen und erklärte schließlich im Jahr 2013, das Abkommen nicht unterzeichnen zu wollen. Pikanterweise enthielt das Abkommen Vereinbarungen über eine militärische Zusammenarbeit zwischen der EU und der Ukraine.

Aufgrund der Absage an das Abkommen mit der EU kam es wiederum zu Protesten, dem sog. Euromaidan, die in einem Massaker mündeten. Unbekannte Scharfschützen schossen sowohl auf Demonstranten, als auch auf die Polizei. Aufgrund der gewalttätigen Proteste musste Janukowitsch aus dem Land flüchten.

Meiner Meinung nach war Janukowitsch ein völlig korrupter Mensch, der mehr an seine eigene Bereicherung, als an sein Land dachte. Darin unterschied er sich übrigens nicht sonderlich von vielen Politikern in der Union oder FDP hierzulande. Von Herrn Scholz ganz zu schweigen. Aber es bleibt festzuhalten: Janukowitsch war der gewählte Präsident und er wurde gewaltsam aus dem Amt vertrieben.

Das ganze Hin und Her um die Präsidentschaft der Ukraine dreht sich um genau das eine zentrale Thema: Den drohenden Beitritt der Ukraine zur NATO.

(Bitte beachtet, dass die Wikipedia-Artikel zu diesen Themen tendenziös sind. Ich verlinke sie, damit Ihr Euch ein grobes Bild von den zeitlichen Zusammenhängen machen könnt. Eine andere Position zu den Ereignissen des Euromaidan findet ihr zum Beispiel bei Daniele Ganser.)**

Die „Rettung“ der Schwarzmeerflotte

Es war aus russischer Sicht klar, dass die Ukraine nach dem Umsturz 2014 über kurz oder lang der NATO beitreten würde. Ein Blick auf die Landkarte zeigt, dass sich mit dem Beitritt die Ausgangslage der NATO für einen Erstschlag gegen Russland deutlich verbessern würde:

Ukraine in der NATO

 

Es ist interessant, wie jemand diese Landkarte in ein Expansionsbestreben Putins umdeuten kann. Das entspricht so derart nicht den Fakten, dass es geradezu unglaublich ist, dass dieser Vorwurf durch unsere gesamte Medienlandschaft zieht.

Zu diesem geostrategischen Problem kommt das Problem der Schwarzmeerflotte*, das ich bereits angesprochen habe.

Die erste Reaktion auf dieses drohende Szenario ließ deshalb nicht lange auf sich warten. Russland erklärte die Krim zu russischem Staatsgebiet. Das wurde dann später durch eine Volksabstimmung abgesichert. Das Ergebnis der Abstimmung war nicht überraschend, da die Krim hauptsächlich von russischen Truppen und deren Angehörigen bevölkert ist.

Ansonsten gibt es noch eine eigene Geschichte zur Krim. Russland hat sich die Krim nämlich schon 1783 unter den Nagel gerissen. Nein, nicht von der Ukraine, sondern von den Krimtartaren.

1954 wurde die Krim unter Chruschtschow der Ukraine übergeben, im Rahmen von Feierlichkeiten zum 300. Jahrestags der Unterwerfung der Ukraine unter den Zaren. Die Übergabe der Krim an die Ukraine sollte sich aus Sicht Russlands im Lauf der Geschichte als Fehler herausstellen, der 2014 nur noch mit militärischer Gewalt behoben werden konnte.

Nach der Besetzung der Krim wurde eine Brücke gebaut, die direkt von russischem Gebiet auf die Krim führt. Aber jetzt mal im Ernst: Ist eine Flotte auf der Krim militärisch zu halten, wenn die Krim von Russland her nur über eine Brücke, von der Ukraine her – also potentiell dem Gebiet der NATO – aber auf dem Landweg erreichbar wäre?

Eine Landverbindung auf die Krim

Diese Konstellation ist aus russischer Sicht unhaltbar. Die Idee ist also, eine Landbrücke zwischen der Krim und russischem Staatsgebiet zu sichern. Das ist auf der folgenden Karte zu sehen:

Landverbindung zur Krim

Wir sehen, dass die Separatistengebiete Luhansk und Donezk genau in dem Streifen liegen, der als Landverbindung benötigt wurde.

Die Idee war folgende: Man suchte sich Regionen, in denen Russland auf die Unterstützung der russischsprachigen Bevölkerung bauen konnte. Und in diesen Regionen zettelte man einen Aufstand an und unterstützte Separatisten, die einen Anschluss der Ostukraine an Russland suchten. Dies gelang in den Bereichen um die Städte Luhansk und Donezk.

Ein weiteres Ziel ergab sich als Nebeneffekt aus diesen Aufständen: Die Ukraine wurde Konfliktregion und konnte daher laut Statuten nicht von der NATO aufgenommen werden.

An dieser Stelle können wir uns kurz zurücklehnen und einmal überlegen, wie „unberechenbar“ Putin tatsächlich ist. Ich denke, dass kein Militärstratege der Welt den Herrn Putin als unberechenbar bezeichnen würde. Ganz im Gegenteil: Er tat das Offensichtliche.

Ich möchte hier auf keinen Fall den Krieg kleinreden, der von Russland gegen die Bevölkerung der Ukraine geführt wird. Es ist keine „Sonderoperation“, es ist ein Krieg. Und dass Kriege schmutzig sind und unschuldige Menschen aus der Bevölkerung in Leid und Tod stürzen, das wissen am besten die USA. Denn die haben seit dem zweiten Weltkrieg die meisten Kriege vom Zaun gebrochen. Man erinnere sich nur an die „chirurgischen Eingriffe“ gegen den Irak.

Wie könnte es weitergehen?

Aber kehren wir zur Ukraine zurück. Was könnte das Ziel Russlands in der Ukraine sein? Zunächst einmal die Kapitulation. Die Tatsache, dass die gesamte Ukraine angegriffen wird – also auch der Westen des Landes – zeigt, dass Russland aufgrund seiner militärischen Stärke eine gute Verhandlungsposition erreichen will.

Aber wenn Putin nicht nur berechenbar, sondern halbwegs intelligent ist, wird er sich und den russischen Soldaten eine dauerhafte Besetzung der Westukraine nicht zumuten wollen. Ich könnte mir vorstellen, dass folgende Konstellation erreicht werden soll:

  1. Die russischsprachige Ostukraine fällt dem Staatsgebiet Russlands zu.
  2. Die auf die Westukraine reduzierte Ukraine unterzeichnet einen Vertrag, der einen NATO-Beitritt ausschließt.

Das wäre das Minimalziel Russlands. Darunter geht es nicht. Ob es nur dabei bleibt, oder ob die Ambitionen größer sind, hängt unter anderem davon ab, mit wieviel sich die russische Bevölkerung zufrieden gibt. Putin muss Stärke beweisen – das ist seine Legitimation in der Logik der Despoten.

Die Ukraine hingegen ist gut beraten, sich so schnell wie möglich in Richtung einer Kapitulation zu bewegen. Militärisch hat sie keine Chance. Waffenlieferungen von Deutschland oder anderen westlichen Staaten würden die Situation nicht verbessern, sondern nur den Krieg verlängern.

Äußerungen, wonach die Ukraine den Russen „ein neues Afghanistan“ bereiten solle, sind absolut zynisch, wenn man in Betracht zieht, was aus Afghanistan im Lauf der Jahrzehnte geworden ist. Es wäre ins Unendliche fortgesetztes Leid.

Stattdessen könnte die Ukraine sich auf die genannten Minimalziele in den Verhandlungen konzentrieren. Das ist die einzige Chance auf ein unabhängiges Staatsgebiet für die Ukraine. Die Landkarte könnte danach etwa so aussehen:

Annexion der Ostukraine

Es tut mir im Herzen weh, dass ich für die Ukraine keine besseren Nachrichten habe. Aber das ist die realistische – fast noch optimistische – Sicht der Dinge.

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 * Ich habe Einschätzungen von Militärexperten gelesen, wonach die Schwarzmeerflotte im Konfliktfall gegen die NATO ohnehin keine Bedeutung hat. Sie wird eher als Relikt „großer Zeiten“ verteidigt. Ich kann das nicht beurteilen. Aber für ein Relikt einen Krieg zu beginnen, der in einen Konflikt mit der NATO münden kann, wäre alles andere als rational. Aber das ist es eben: Krieg führen ist eine Handlungsoption, die immer nur in geschlossenen Wahngebilden eine Berechtigung hat. Und das trifft für Russland ebenso zu, wie für die USA.

** Der Vortrag wurde von KenFM veranstaltet und gefilmt. Bitte hängt mir keine Kontaktschuld bezüglich Ken Jebsen an. Überprüft selbst, was einzelne Personen wie Daniele Ganser oder Ken Jebsen zu sagen haben und bildet Euch Eure eigene Meinung. Es ist Eure Verantwortung.

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