Der Stich ins Fleisch der SPD

Sonntag, 07.07.2024

Mirko Matytschak

Beim beliebten Freizeitspiel „Das Nachrichten-Puzzle“ heute eine Komposition zweier Nachrichten über die SPD und das Bürgergeld. Mit dem zu erwartenden Ergebnis.

Die SPD nimmt das Bündnis Sarah Wagenknecht (BSW) als Gefahr wahr. Also nicht als Gefahr für’s Land, sondern als Faktor auf ihrem selbstverschuldeten Weg in die Bedeutungslosigkeit.

BSW ist Stich ins Fleisch der SPD

Da muss man unbedingt reagieren!!! Zitat:

Die Parteigründerin und Namensgeberin Sahra Wagenknecht sei gerade die Projektionsfläche für viele Menschen, die sich von der Politik nicht vertreten fühlten. „Das ist durchaus ein eindeutiger Wink mit dem Zaunpfahl an die SPD“.

Wie konnte es denn nur so weit kommen, dass sich Wähler nicht von der SPD, sondern vom BSW vertreten fühlen? Hier muss ich etwas ausholen.

Die Jüngeren unter den Lesern wissen vielleicht nicht, dass eine der Wurzeln des BSW in der WASG liegt, der Wahlalternative Arbeit und Soziale Gerechtigkeit. Sie gründete sich aus Mitgliedern der SPD und der Gewerkschaften, die die Politik der Agenda 2010 zurecht ablehnten.

Der Absturz der Sozialdemokratie

Die Zusammenlegung des Arbeitslosengelds II und der Sozialhilfe führte zu einer unerträglichen Gängelung von Arbeitslosen, die eine gewisse Zeitlang keinen neuen Arbeitsplatz gefunden hatten.

Diese Gängelung und die extrem niedrigen Leistungen, verbunden mit Sanktionen, die eine Kürzung der Leistungen ermöglichten, führten zu einer massiven Angst vor Arbeitslosigkeit in der Bevölkerung und damit zu einem verschärften Konformitätsdruck in der Arbeitnehmerschaft, vor allem in Bereichen des Niedriglohnsektors.

Das kostete die SPD sehr viele Stimmen von alten „aufrechten“ Sozialdemokraten, die von ihrer Partei erwarteten, sich um die Belange des schwächeren Teils der Gesellschaft zu kümmern. Stattdessen verfolgte die SPD, wie wir wissen, unter Schröder einen neoliberalen Kurs. Das ist das Gegenteil einer sozial ausgerichteten Politik.1

Ein Teil der SPD-Mitglieder wandte sich daher von der Partei ab und gründete die WASG.

Niedergang der Linken

Aus dieser WASG und der ostdeutschen PDS ging die Partei „Die Linke“ hervor, die zunächst einmal gewisse Erfolge verzeichnen konnte. Teile der Linkspartei führten jedoch einen Bruch mit Sarah Wagenknecht herbei, die man getrost als Zugpferd der Partei bezeichnen konnte.

Und nun tritt Sarah Wagenknecht erneut mit demselben Versprechen an, nämlich: sich um die Belange der Schwachen in unserer Gesellschaft zu kümmern.

Es ist nicht wirklich auszumachen, welchen politischen Kurs „Die Linke“ verfolgt, aber die Frage der sozialen Gerechtigkeit scheint gegenüber anderen Fragen etwas in den Hintergrund zu rücken.

Ihr könnt Euch ein beliebiges Video von Frau Wagenknecht anschauen, da werdet ihr immer wieder dieselben Aussagen finden, in denen sie genüsslich diese Abkehr von den sozialen Fragen ausschlachtet – und zwar zu ihren Gunsten.

Ihr müsst kein Freund der Frau Wagenknecht sein, aber es lohnt sich, das eine oder andere Video anzusehen, nur damit Ihr wisst, welche Themen sie auf welche Weise in den Mittelpunkt rückt. Das gehört übrigens zur politischen Allgemeinbildung, sich auch mal andere Perspektiven anzusehen. Es reicht nicht, sich die Meinung aufgrund der Kommentare in n-tv und ARD zu bilden.

Was kann man Arbeitslosen zumuten?

Nach dieser kurzen Abschweifung nun die zweite Nachricht unseres Puzzles:

Bürgergeld-Empfänger Arbeitsweg bis 3 Stunden

Ich zitiere kurz:

Das sieht der Maßnahmenkatalog vor, auf den sich die Regierungskoalition bei ihren Verhandlungen zur Wachstumsinitiative geeinigt hat. Bislang gilt ein Zeitaufwand von 2,5 Stunden als zumutbar. Künftig soll bei einer Tagesarbeitszeit von mehr als sechs Stunden eine Pendelzeit von insgesamt drei Stunden (hin und zurück) zumutbar sein.

Das erinnert mich an eine Episode des Filmes Bowling for Columbine (der Link zeigt auf den kompletten Film auf Youtube). Eine alleinerziehende Frau muss eine Arbeit annehmen, die eine sehr lange Anfahrt erfordert. Das basiert auf einer Entscheidung der Bundesregierung in den USA, dass Arbeitslose Jobs annehmen müssen, zu denen sie ein paar Stunden pendeln müssen.

Die Frau verlässt das Haus frühmorgens, um einen Bus zu erreichen, der sie zu ihrem Arbeitsplatz bringt, und kommt spätabends nach Hause. Ihr anfangs 4-jähriger Sohn bleibt den ganzen Tag unbeaufsichtigt zu Hause. Als er sechs Jahre alt ist, kommt er irgendwie an eine Waffe und erschießt damit eine Mitschülerin.

Die Entscheidung, arbeitslose Personen bis zu 11 Stunden am Tag in der Weltgeschichte umherzuschicken, um einen Job auszuführen, den sie nicht ablehnen dürfen, ist also nicht unbedingt eine Erfolgsgeschichte.2 Aber aus dem Blickwinkel eines billigen Populismus, der die arbeitende und die arbeitslose Bevölkerung entzweien will, klingt das wie eine vernünftige Maßnahme.

Ich zitiere weiter:

Außerdem sollen Jobcenter in einem Umkreis von 50 Kilometern vom Wohnort des Bürgergeld-Beziehers nach einem Arbeitsplatz suchen.

Wenn jetzt noch die Grünen daherkommen und fordern, dass der CO2-Ausstoß mehr kosten muss, dann kann man sich vorstellen, dass niemand mehr eine Regierung haben will, in der eine angeblich sozialdemokratische Partei von den neoliberalen Parolen der FDP und den Forderungen der Grünen vor sich hergetrieben wird.

Dieselbe SPD, die von einem Kanzler angeführt wird, der einem Cum-Ex Banker 45 Millionen Euro in den Allerwertesten schiebt, und der sich hinterher nicht einmal mehr daran erinnern kann, ebendiesen Banker jemals getroffen zu haben.

Dieselbe SPD, deren Kanzler eigentlich nicht in einen Krieg getrieben werden will, der aber dem Druck seiner bellizistischen Koalitionspartner und einer ebenso kriegstreiberischen Medienlandschaft nicht standhalten kann.

Die Bürger, die in normalen, nicht sonderlich hoch bezahlten Jobs unterwegs sind und wegen der Politik der SPD Angst vor dem sozialen Absturz haben: Was sollen die von solch einer Partei halten?

Die große Gefahr

Und nun kommt das BSW und hat zwei Hauptthemen im Programm: Soziale Gerechtigkeit und das Ende der Kriegsvorbereitungen gegen Russland. Dazu kommen noch Forderungen nach einer vernünftigen Industriepolitik sowie das Überdenken gewisser Aspekte der Flüchtlingsmigration.

Ja natürlich schlackern der SPD die Hosenbeine, weil sie dem nichts entgegenzusetzen haben, als die Formel, man mache ja die richtige Politik, man müsse sie nur besser kommunizieren.

Aber der Herr Weil weiß sich auf der richtigen Seite:

"Sahra Wagenknecht irrlichtert herum", sagte der Sozialdemokrat. "Mir ist es jedenfalls noch nicht gelungen, den programmatischen Kern von ihr zu identifizieren." Außerdem grenze sie sich "nicht wirklich" gegen fremdenfeindliche Strömungen ab.

Wenn er etwas über den programmatischen Kern des BSW erfahren will, sollte er sich ein beliebiges Video anschauen, das Frau Wagenknecht in den letzten Wochen produziert hat.

Und was die angeblich fremdenfeindlichen Strömungen anbetrifft, sollte er sich einmal darüber informieren, wie sich seine eigene Partei gerade mit markigen Worten an die AfD anbiedert. Wenn man tatsächlich Frau Wagenknechts Kritik an den Folgen der Zuwanderung als fremdenfeindlich bezeichnen könnte, welche Vokabeln blieben dann für die Äußerungen von Frau Faeser?3

Es hilft nicht wirklich, über das BSW zu witzeln, dass es für den Hitlergruß mit der linken Hand steht. Diese Nazivergleiche funktionieren selbst bei der AfD nicht, obwohl die einen Höcke in der Partei haben. In Bezug auf das BSW ist das einfach nur auf eine idiotische Art danebengeschossen und letztlich eine Form aktiver Wahlwerbung für das BSW.

Es kommen Wahlen auf uns zu, bei denen die AfD im Begriff ist, die Mehrheit in den Parlamenten zu erringen. Und die einzige Partei, die durch ihre Inhalte (und nicht durch irgendwelche juristischen Winkelzüge) in der Lage ist, einen nennenswerten Anteil an Stimmen auf sich zu vereinen, bevor diese an die AfD weiterwandern, ist das BSW.

Das ist der „Stich ins Fleisch“ der SPD, dass sie nämlich Zeiten auf sich zukommen sieht, in denen sie der Juniorpartner des BSW sein wird.

Da kann ich nur sagen: Selbst schuld. Und solange die SPD nicht anfängt, über das „programmatische Irrlichtern“ in ihren eigenen Reihen zu reflektieren, wird das BSW die Finger in genau diese Wunden legen und mit programmatischer Schärfe der SPD den Rest der Wähler abjagen, der ihr noch verblieben ist.

______________

1 Im Wikipedia-Artikel über die Agenda 2010 wird aus einem Interview zitiert (leider hinter einer Bezahlschranke), in dem Schröder die Agenda 2010 bereut:

[...] dass seine Entscheidung für die Agenda 2010 eine war, die er gegen sein eigenes moralisches Verständnis getroffen habe.

Ich möchte daher jede Mandantsträger:in mit und ohne Genderpause noch einmal daran erinnern, dass er/sie ausschließlich seinem Gewissen verpflichtet ist. Eine Entscheidung gegen das eigene moralische Verständnis ist mit einem Mandat in einem Parlament nicht vereinbar. Müssen Abgeordnete, Minister, Kanzler etc. anderen Personen gegenüber loyal sein, dann ist dies ein Konflikt mit ihrem Mandat. Sie müssen dann ihr Mandat niederlegen, wie das Verfassungsgericht unmissverständlich darlegte.

Die Ausrede des Herrn Schröder gilt daher nicht. Er hätte das wissen müssen, weil er als Kanzler ja auch noch einen Schwur aufs Grundgesetz geleistet hat.

2 Abgesehen vom allgegenwärtigen Missbrauch, der aus diesem Zwang folgt.

Ich habe eine Person in ihren Mittfünfzigern beraten, die verzweifelt auf der Suche nach einen Job als Office Managerin war. Wegen ihrer langen Arbeitslosigkeit war sie in Hartz IV gerutscht. Im Jobcenter machte man gar keine Anstalten, ihre Qualifikation in irgendeiner Weise zu berücksichtigen. Die Sachbearbeiterin schickte sie zu einer Firma, bei der sie Hilfsarbeiten zu extrem schlechten Bedingungen hätte durchführen müssen. Beim Bewerbungsgespräch wurde klar die Erwartung ausgedrückt, dass sie bis zu 60 Stunden in der Woche arbeiten soll.

Im Weiteren stellte sich heraus, dass die Firma wegen einer privaten Beziehung zu der Jobcenter-Mitarbeiterin als potentieller Arbeitgeber geführt wurde. Die Firma kam über diese Beziehung an Arbeitssuchende heran, die unter dem Druck der Sanktionen den Job zu den schlechten Bedingungen annehmen mussten.

Die Zwangsbewerberin ließ die Firma wissen, dass aus dem Beschäftigungsverhältnis nichts Dauerhaftes werden würde und die Firma gut daran täte, von sich aus die Bewerbung abzulehnen. Die Firma wiederum hatte gar nicht vor, dauerhafte Beschäftigungsverhältnisse zu etablieren. Sie fuhr besser mit der Strategie der kurzfristigen Beschäftigungsverhältnisse zu den schlechten Konditionen. Nachschub gab es aus dem Jobcenter genug.

Dennoch ging die Firma auf den Vorschlag ein. Ich vermute, dass die Firma sehr wohl wusste, welche Art „Bewerber“ ihr Geschäftsmodell gefährden konnte.

Die ganze Geschichte stinkt zum Himmel. Die Jobcenter stellten damals günstige ungelernte Kräfte als Sachbearbeiter ein. Die Bewerber erhielten einen kurzen Kurs und kamen danach in ihren Job. Eventuelle Zuwendungen von Unternehmen standen (und stehen heute wahrscheinlich noch) außerhalb jeder Kontrolle. Solche Deals führen zu einer hohen Vermittlungsquote, was wiederum gut für die Sachbearbeiter und ihre Chefs ist.

Das ist das Werk der neoliberalen Politik der SPD.

Meine Beratung, die sich auf die Bewerbungsgespräche bezog, trug übrigens Früchte und die gute Frau kam als Office Managerin im öffentlichen Dienst unter.

3 Es würde sich lohnen, einmal über die Fluchtursachen nachzudenken. Da sind ein paar historisch sozialdemokratische Themen vergraben, die heute in der SPD natürlich keine Rolle mehr spielen. Und die Unterstützung der US-Hegemoniepolitik durch die SPD fällt ebenfalls in diesen Themenbereich. Es wundert mich immer wieder, mit welcher Naivität das Phänomen der Migration betrachtet wird, während gleichzeitig unablässig die Lebensgrundlagen von Millionen von Menschen zerstört werden.

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