Wie man einen Putin züchtet

Montag, 15.05.2023

Mirko Matytschak

Auf dem Heiligenfeld-Kongress, der kürzlich stattgefunden hat, äußerte ein Referent einen bemerkenswerten Satz: „Ich möchte Putin nicht lieben müssen“. Dieser Satz fordert so einiges an Entgegnungen heraus. Dies ist der Versuch einer Einordnung.

Der Satz wurde am Samstagabend von Prof. Dr. Rolf Verres als Abschluss eines sehr kurzweiligen Vortrags geäußert, der wie der gesamte Freitagabend unter dem Motto „Auf der Suche nach dem Wunderbaren“ stand.

Die erste Entgegnung ließ dann auch nicht lange auf sich warten und kam von Prof. Dr. Franz-Theo Gottwald direkt am nächsten Morgen. Er sagte sinngemäß: „Ich wüsste nicht, wer von Dir fordern könnte, Putin zu lieben, wenn nicht Dein eigener katholischer Hintergrund“.

Naive Spiritualität

Tatsächlich fände ich es etwas merkwürdig, wenn jemand, der nicht direkt aus Putins Familie oder seinem engeren Umfeld stammt, aus freien Stücken sagen würde: „Wladimir, ich liebe Dich!“. Und weil ich dies so merkwürdig finde, kann ich mir auch nicht so richtig vorstellen, dass jemand das fordern könnte, es sei denn, aus einem Umfeld einer sehr naiven Auslegung von Spiritualität, die die bedingungslose Liebe für alle Menschen fordert, egal, was sie tun.

Soweit ich sehen konnte, waren auf dem Kongress vorwiegend erwachsene Personen, die schon einmal in ihrem Leben ihr Gehirn benutzt haben, sodass mir die Gefahr einer solch naiven Auslegung der Spiritualität sehr gering erschien.

Aber warum sagt der Herr Verres dann so einen Satz? Ist es vielleicht deshalb, weil er sich wünschte, dem Herrn Putin möge etwas zustoßen, sodass seine Autokratie ein Ende haben könnte? Dass er diesen Wunsch ohne Gewissensbisse hegen könnte, wenn er Putin nicht lieben muss? Aber wenn er sich das wünscht, ist ihm denn nicht klar, dass Putin durch jemanden ersetzt werden würde, der für eine ähnliche Politik stünde?

Autoritätshörigkeit

Die Verteufelung Putins öffnet das Tor für Gedanken, die ich vor ein paar Jahren nicht für möglich gehalten hätte. Es gibt in meinem Bekanntenkreis ein paar bis dato relativ intelligent erscheinende Personen, die tatsächlich glauben, mit Putins Tod würde irgendetwas auf der Welt besser.

Da habe ich schlechte Nachrichten. Eine solche Autokratie entwickelt sich nämlich von zwei Seiten her: Die eine Seite ist der narzisstische Politiker, der nie genug Macht haben kann. Sein Wunsch nach grenzenloser Macht bliebe aber nur ein Traum, wenn es nicht Menschen gäbe, die von genau solch einer Person geführt werden möchten. Die Aufarbeitung des Nationalsozialismus zeigt uns1, dass zu den autoritären Führern auch das autoritätshörige Volk gehört. Und beide entspringen derselben Ideologie.

Wie entsteht diese Ideologie? Sie ist der Niederschlag der gesellschaftlichen Verhältnisse in den Menschen. Die Psychoanalyse lehrt, dass die wichtigsten Prägungen einer Person in den ersten vier Lebensjahren geschehen. Und dann haben wir einen zeitlichen Versatz von ca. 15 Jahren und dann zeigt sich diese Prägung im Weltbild und in der politischen Ausrichtung erwachsener Personen. Es bräuchte schon eine Art psychotherapeutischer Intervention, um an dieser Charakterbasis nachträglich etwas zu ändern.

Eine solche Heilung ist möglich und auch nachweisbar2: Menschen, die eine Psychotherapie durchlaufen, die lernen, über ihr Verhalten zu reflektieren, die lernen, ihre Emotionen zu spüren, sind fähig zu Empathie und richten ihr Leben entsprechend aus.

Eine empathische Person könnte es nicht zulassen, dass ihre Firma Waren des täglichen Bedarfs unter unmenschlichen Bedingungen produzieren läßt, dass Menschen, die in der Hoffnung auf ein Leben, in dem sie sich und ihre Familien ernähren können, im Mittelmeer ertrinken und dass wir einem Huhn einen Lebensbereich zugestehen, der nicht größer als ein DIN A 4-Blatt ist – und vielerlei andere Erscheinungen unseres modernen Lebens.

Aber diese Dinge geschehen: mit der Duldung durch die Bevölkerung, die im Schnitt wohl nicht so empathisch ist und dafür an den Stammtischen die westlichen Werte vertritt.

Der Boden der Autokratie

Wir leben in einer Gesellschaft, die ihre Kinder stumpf werden lässt, sodass sie die unmenschlichen Aspekte derselben Gesellschaft als notwendige Randerscheinungen ihres Wohlstands akzeptieren. Und wir leben in einer Gesellschaft, in der permanent die Angst herrscht, ebendiesen Wohlstand wieder zu verlieren.

Die Politik kann uns diese Angst nicht nehmen. Im Gegenteil: Die Angst ist ein wesentlicher Bestandteil der Faktoren, die die Bevölkerung gefügig machen. Wer Angst vor dem sozialen Absturz hat, wird sich nach Kräften bemühen, im Produktionsprozess mitzuhalten. Das ist der Kern der „Agenda 2010“, die uns ein gewisser Gerd Schröder beschert hat.

Die Angst, zu verlieren, was man hat, ist ein wichtiger Bestandteil des Bodens, auf dem autoritäres Gedankengut wächst3. Und das schlägt den Bogen zurück zu Putin.

Putins Allmachtstellung ist nämlich der feuchte Traum unserer Politiker. Wenn sie nicht die westlichen Werte hochhalten müssten, hätten sie diesen Traum schon längst realisiert. Statt dessen müssen sie die Bevölkerung Schritt für Schritt an neue Repressionen gewöhnen. Das kostet Zeit und Mühen und gibt engagierten Bürgern die Möglichkeit, zu intervenieren. Interessant ist nun, dass Teile der Bevölkerung den Ausbau der Repressionen für alternativlos halten und sich sogar ein höheres Tempo dabei wünschen.

Deshalb haben die populistischen Rechtsparteien in ganz Europa auch solchen Zulauf. Sie nehmen der Bevölkerung die Angst. Sie haben die Eier, die die anderen nicht haben. Sie versprechen, mit dem eisernen Besen aufzuräumen. Und das ist es, was ein gros der Bevölkerung ersehnt. Dass sie dann aber selbst die Leidtragenden sein werden, ist die Ironie der Ideologie.

Geistige Stumpfheit und das Ende des Pluralismus

Wir haben in diesem Land innerhalb weniger Jahrzehnte unsere Gesellschaft vollkommen umgestülpt. Konnten in den End-70ern und 80ern noch verschiedene Standpunkte nebeneinander existieren (wisst Ihr noch? Pluralismus?), gibt es heute nur noch alternativlose Ansagen. Handel mit Russland: Ein schwerer Fehler der Vergangenheit! Verhandlungen mit Russland? Undenkbar! Waffen in ein Kriegsgebiet liefern? Aber natürlich! Es geht ja schließlich gegen den Teufel in Person! Jemand möchte leisere Töne anschlagen? „Putin versteht nur die Sprache der Macht!!1!“.

Innerhalb von dreieinhalb Jahren erleben wir zum zweiten Mal eine Situation im Land, in der nur eine Meinung gilt, und Personen, die eine andere Perspektive einnehmen, öffentlich demontiert werden. Menschen verlieren ihre Jobs wegen ihrer Meinungsäußerungen. Es werden Auftrittsverbote für einen bestimmten Personenkreis ausgesprochen. Das geht so weit, dass selbst ein Theologe wie Eugen Drewermann4 von Veranstaltungsorten ausgeschlossen wird, weil er sich für Verhandlungen mit Russland ausgesprochen hat.

Ein Volk, ein Feind, eine Meinung. Endlich kommt wieder Ordnung ins Land.

Und ich stelle fest, dass es auch (oder insbesondere) im Kreis der Grünen Partei, die einst für ein buntes Leben auf einem friedlichen Planeten angetreten ist, keine Agenda mehr gibt, außer derjenigen, den Krieg gegen Russland zu gewinnen. Natürlich möglichst ohne die direkte Beteiligung deutscher Soldaten: Die Ukraine macht das für uns. Mit dieser Einstellung sind die Grünen endlich „in der Mitte unserer Gesellschaft“ an der Seite der Union angekommen:

Eine schöne Zukunft sichern wir uns hier, auf einem Berg von Leichen in der Ukraine.

Die geistige und emotionale Stumpfheit, die zu solch einer Haltung gehört, von der Verteufelung Putins bis hin zum Sichern unserer Zukunft mit dem Blut der Ukrainer, ist der Boden für die Entwicklung von Autokraten. In der Art, wie wir den Krieg gegen Putin führen, züchten wir uns unseren eigenen Putin. Ich fürchte aber: Dessen Agenda wird uns nicht gefallen.

Nein, Herr Verres, die meisten von uns lieben Putin nicht. Aber wie Sie sehen: darum geht es gar nicht.

_________

1 Es gibt zwei Werke, die ich in diesem Zusammenhang hervorheben möchte: Wilhelm Reich, Die Massenpsychologie des Faschismus und Hannah Arendt, Formen totalitärer Herrschaft oder auch „Eichmann in Jerusalem – ein Bericht über die Banalität des Bösen“.

2 Es geschieht, aber nicht in einem Ausmaß, aus dem eine gesellschaftliche Veränderung resultieren würde. Die Therapiewelle in den 80ern hat zumindest nicht ausgereicht.

3 Siehe dazu Wilhelm Reich, Massenpsychologie des Faschismus, 1933, S. 25. Zitat:

Dem Mittelstand kommt somit eine höhere Bedeutung zu, als ihm beigemessen war. In die Zeit des rapiden Niedergangs der deutschen Wirtschaft 1929-1932 fällt der große Sprung der NSDAP von 800.000 Stimmen [...] auf 6,4 Mio im Herbst 1930. Nach einer Berechnung von Jäger [...] enthielten bereits die 6,4 Mio nationalsozialistischer Stimmen etwa drei Millionen ökonomisch-proletarische, und zwar 60-70% Angestellte und 30-40% Arbeiter.

Reich zeigt im Weiteren, dass die NS-Ideologie im Wesen eine kleinbürgerliche Ideologie war.

Diese zwiespältige Einstellung zur Autorität: Rebellion gegen die Autorität bei gleichzeitiger Anerkennung und Unterwerfung, ist ein zentraler Faktor jeder kleinbürgerlichen Struktur

Die AfD bedient dieselbe Zielgruppe mit denselben Ängsten und derselben Art an Rebellion gegen „das Establishment“. Ähnliches gilt für die FPÖ in Österreich. Gleichzeitig lassen sie keinen Zweifel darüber, was sie mit Personen aus linken Kreisen zu tun gedenken, wenn sie erst einmal an der Macht sind. Und links ist man für Leute wie Höcke oder Strache bereits, wenn man Grüne oder SPD/SPÖ wählt.

4 Drewermann wird gerade durch den Fleischwolf der öffentlichen Demontage getrieben. Das zeigt sich auch an dem typischen Satz im Wikipedia-Eintrag über ihn:

In den 2020er Jahren geriet Drewermann unter anderem aufgrund verschwörungsideologischer Aussagen und Positionen immer mehr in die Kritik. 

Zitat Wikipedia:

Der Krieg könne, so Drewermann, in einem Nachmittag beendet werden, wenn man nur den Sicherheitsinteressen Russlands Rechnung trage.

Man könnte über diesen Satz ja zumindest einmal nachdenken. Stattdessen wird aus Drewermann eine „umstrittene Person“ gemacht. Ich stelle fest: In den letzten Jahren gibt es geradezu eine Inflation an „umstrittenen“ Personen.

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