Die böse Ideologie

Montag, 01.05.2023

Mirko Matytschak

In den letzten Monaten hat der Begriff Ideologie Hochkonjunktur. Er wird so häufig eingesetzt, dass er mittlerweile zur hohlen Phrase ohne Bedeutung verkommt. Aber ich stelle fest: Die Auseinandersetzung mit der eigentlichen Bedeutung des Begriffs erschließt ungeahnte Erkenntnisse

Wenn ich die Suchmaschine meiner Wahl nach dem Begriff Ideologie anwerfe, dann ergibt sich folgendes Bild:

Suchergebnisse Ideologie

Beim Durchlesen der Suchergebnisse zeigt sich die neue Bedeutung des Begriffs in etwa wie folgt: Ideologie ist ein Tunnelblick aus „linken“ Positionen und verursacht eine Haltung, in der radikale Ideen zu ungunsten pragmatischer Lösungen verfolgt werden. Ideologie ist also eine Art Schimpfwort, das man vorwiegend der Linkspartei und den Grünen hinterherwirft.

Ich möchte jetzt nicht ebenfalls auf die schlechten Ideen der Grünen, wie das Verbot von Verbrennungsheizungen, eingehen, sondern auf die Beweggründe, warum bestimmte Gruppierungen in diesem Land diese Ideen als Ideologie bezeichnen, statt als schlechte Ideen, die sie tatsächlich sind.

Was bedeutet der Begriff wirklich?

Die Wikipedia beginnt ihre Erklärung mit einem Synonym, nämlich dem Wort „Weltanschauung“, um dann unmittelbar auf die Bedeutung einzugehen, die Marx und Engels diesem Begriff gegeben haben. Der Begriff hat seinen Einzug in die politische Diskussion nämlich den beiden Autoren zu verdanken.1

In deren Sinn bedeutet der Begriff die Gesamtheit dessen, was die Menschen unter dem Einfluss der konkreten gesellschaftlichen Verhältnisse denken. Sie unterscheiden das Bewusstsein, das die Menschen in einer bestimmten Zeit über ihre Gesellschaft haben könnten von den tatsächlichen Ideen, die die Menschen in derselben Zeit hatten (und heute haben). Die Förderung bestimmter Ideen als Teil der Ideologie diente bestimmten Zielen, wie auch die Wikipedia weiß:

Da die materiellen Verhältnisse und Interessen das Denken bestimmen, wird nach Marx die Ideologie der Gesellschaft durch die Interessen dominanter gesellschaftlicher Gruppen, z. B. der Bourgeoisie, beeinflusst, um diese zu rechtfertigen.

Die Besten aller Ideen

Ein Beispiel aus neuerer Zeit: In den 90ern haben die Menschen in Deutschland (und eigentlich in ganz Europa) ein neoliberales Weltbild verfolgt und entsprechend gewählt. Das war nicht unbedingt zum Vorteil derselben Wähler.

Bei den relativ gut gestellten Angestellten und Selbständigen könnte man das noch irgendwie verstehen, aber dass die Arbeiterschaft eine Partei in die Regierung wählt, die mittels Hartz IV die Angst vor dem sozialen Absturz durch Arbeitslosigkeit fest in der Gesellschaft installiert, ist mit rationalen Erwägungen nicht nachzuvollziehen.

Da kommt dann die Frage auf, wie dieses neoliberale Weltbild in die Köpfe der Menschen kommt. Damit wären wir dann mitten im Thema Ideologie.

Wer genau entwirft ein solches Weltbild und bringt es unter die Menschen? Und wozu?

Ebenfalls in den 90ern haben wir gelernt, dass der Staat ein „schlechter Unternehmer“ ist. Wir wurden zu der Folgerung nahezu genötigt, dass es das Beste für die Gesellschaft sei, die öffentlichen Dienste privatwirtschaftlich zu organisieren.

Der Staat ist ein schlechter Unternehmer

Solcherlei Art Ideen sickerten von „Ideenschmieden“ wie der Bertelsmann-Stiftung über die Presse in die Köpfe der Gesellschaft, bis eine Mehrheit im Land die Idee u.a. eines gewissen Herrn Lauterbach, die Kliniken zu privatisieren, als Beste aller Lösungen betrachtete. Die Kliniken, so hieß es, stünden durch die Privatisierung im Wettbewerb miteinander und das helfe dem Gesundheitswesen, Kosten zu sparen – denn der günstigste Anbieter gewinnt.

Was man dabei nicht erwähnt hat: wir genießen dadurch nicht nur eine theoretisch mögliche Kostenreduzierung, sondern müssen auch den Aktionären der Klinikketten den Gewinn finanzieren.

Also: Der Staat als „schlechter Unternehmer“ erwirtschaftet keinen Gewinn. Muss er auch nicht. Die Klinikkette als „besserer Unternehmer“ schöpft von dem Geld, das wir alle für unsere Gesundheitsversorgung zur Verfügung haben, nach Deckung aller Kosten ihre Gewinne ab. Und das soll jetzt für alle besser sein? Es muss doch jedermann von vorneherein klar gewesen sein, dass das absoluter Unsinn ist. Und wir sehen heute auch, wie die Sache wirklich funktioniert:

Um Kosten zu sparen, wird Personal eingespart. Das führt zur Personalnot in der Pflege, bei den Ärzten und sonstigen Bediensteten in den Kliniken. Das führt zu untragbaren Arbeitsbedingungen und zu weiterer Abwanderung von Personal in andere Berufszweige. Um den angeblichen Notstand zu beenden, wird vom Staat mehr Geld gefordert. Dieses Geld wird aber nicht für mehr Personal ausgegeben. Es finanziert die Gewinne der Aktionäre. Es sieht nur so aus, als ob die Unternehmen Personal suchen. Aber eine gefakte Stellenausschreibung kostet halt weniger, als reale Pflegekräfte.

Dieses gute Geschäft soll noch ausgebaut werden. Dem stehen zu viele Kliniken im Weg, die sich noch in öffentlicher Hand befinden. Also fordert die Bertelsmann-Stiftung, Kliniken zu schließen:

In Deutschland gibt es zu viele Kliniken

In Deutschland gibt es zu viele Krankenhäuser. Eine starke Verringerung der Klinikanzahl von aktuell knapp 1.400 auf deutlich unter 600 Häuser, würde die Qualität der Versorgung für Patienten verbessern und bestehende Engpässe bei Ärzten und Pflegepersonal mildern.

Normalerweise würde man jemanden, der den „Grundtenor“ dieser Studie richtig findet, einen Deppen schimpfen. Aber das geschähe ganz offensichtlich zu Unrecht, da der ausgewiesene Experte für Gesundheitspolitik in unserem Land folgendes äußert:

Tatsächlich würde die Qualität mit weniger Kliniken steigen, sofern die richtigen geschlossen würden, so der SPD-Fraktions-Vize. „Wir haben sehr viele Krankenhäuser gemessen an vergleichbaren Ländern. Bei weniger Krankenhäusern hätten wir mehr Pflegekräfte, Ärzte und Erfahrung pro Bett und Patient und könnten auf überflüssige Eingriffe verzichten.“

Ich weiß nicht, wie es Euch geht, aber ich habe aus der 4. Klasse Rechenunterricht folgende Überlegung mitgenommen:

  1. Angenommen, wir haben 400.000 Patienten in 1.400 Kliniken. Dafür brauchen wir 400.000 Betten. Wenn ich dieselbe Anzahl Patienten in 600 Kliniken behandeln möchte: Wie viele Betten brauche ich dann?
  2. Wenn ich die vorhandenen Pflegekräfte der 1.400 Kliniken auf 600 Kiniken zusammenfasse: Wie viele Pfleger kommen dann auf einen der 400.000 Patienten?2

Wie kommen solche offensichtlich bescheuerten Ideen in die Köpfe der Menschen, sodass Politiker solche Forderungen stellen können? Was sich die Bertelsmann-Stiftung und der Herr Lauterbach hier ausgedacht haben, ist ein Verwirrspiel, dessen Realisierung null komma null Einfluss auf die Pflegeversorgung hat.

Aber wenn es gar nicht um eine bessere Versorgung geht, worum geht es dann? Welche Kliniken wären denn die „richtigen“, die Herr Lauterbach schließen möchte? Um eine Idee zu diesem Thema zu bekommen, könnte es interessant sein, zu wissen, wem gegenüber Herr Lauterbach loyal ist. Und welche Auswirkungen das auf die Anzahl Krankenhausbetten in Deutschland hat.

Die Diskrepanz zwischen dem, was die Bevölkerung denken könnte (Bewusstsein) und dem, was sie denkt (Ideologie), macht sich an Fragen wie dieser fest: Wie kann es sein, dass ein Großteil der Bevölkerung eine faktische Verschlechterung ihrer eigenen Klinikversorgung für eine gute Idee hält?

Die Grünen und die Ideologie

Dieser Beitrag geht ja von dem Vorwurf der Ideologie aus, der vor allem an die Grünen gerichtet wird. Von denselben Kreisen, die unter anderem die Klinikschließungen für eine gute Idee halten, gehen auch die Gerüchte aus, dass die Grünen eine linksverbrämte Ideologie verfolgen, die zu einem derart verengten Blickwinkel führt, dass man in Deutschland noch nicht einmal ergebnisoffen über eFuels diskutieren kann.

Ja, die Grünen haben eine Ideologie, die sie gezielt in Politik umsetzen. Aber nicht, was Ihr vielleicht meinen könntet. Die Grünen sind ein gespaltenes Wesen: Die Basis wählt die Partei, weil sie auf politische Entscheidungen gegen den Klimawandel hofft. Und die Führungsclique verfolgt eine transatlantische Ideologie, mit ganz klaren Feindbildern, nämlich Russland und China.

Diese Politik ist ihnen so wichtig, dass sie ihre „eigenen“ Klimaziele völlig aus den Augen verlieren. Mit der Symbolisierung von „Innerer Sicherheit“ und militärischer Stärke reihen sich die Grünen in die Riege der Parteien ein, die aus der Sicht des militärisch-industriellen Komplexes als ernst zu nehmend eingestuft werden. Und das wiederum verschafft ihnen die Öffentlichkeit, die sie brauchen, damit sie bei Wahlen eine Regierungsbeteiligung erzielen können.

Wie kann es sein, dass eine faktische Verschlechterung unserer Lebensverhältnisse durch Sanktionen gegen Russland, durch „Sondervermögen“ für die Rüstung – das dann an anderer Stelle fehlt – und durch die Verschlechterung der Sicherheitslage wegen offener Feindseligkeit gegenüber anderen Staaten – statt der angebrachten kritischen Haltung: wie kann es sein, dass all dies von einem nennenswerten Teil der Wähler im unserem Land für eine alternativlose Politik gehalten wird?

Die Klimaziele werden derweil von anderen Personen außerhalb des Parlaments eingefordert, die das auf ihre Weise tun.

Das ist Ideologie!

Gegenwärtig beschäftigt mich der Gedanke, wie ein nennenswert großer Teil der Gesellschaft die Handlungen der „Letzten Generation“ als höchst kriminell bezeichnen kann, während die Handlungen derjenigen, die weiterhin ihren Dreck in die Umwelt pusten, als Business-as-usual gesehen werden, der den Schutz des Gesetzes genießt? Das ist Ideologie.

Um darüber nachzudenken, muss ich die Aktionen der Letzten Generation nicht gut finden.

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1 Eigentlich ist es eine Art Wiedereinzug, weil bereits in der Antike die Verbindung der politischen Ausrichtung mit einer Ideenleere beschrieben wird – zum Beispiel bei Platon. Hier steht aber nicht die Diskrepanz zwischen dem Potential (was die Menschen über ihre Gesellschaft wissen könnten) und der tatsächlichen Meinung der Menschen im Mittelpunkt, wie es bei Marx und Engels der Fall ist.

2 Für diejenigen, die nicht nachrechnen wollten: Das war eine Fangfrage. Es gibt nichts nachzurechnen. Egal auf wieviele Kliniken wir Pfleger und Patienten verteilen, die 400.000 Patienten haben immer die gleiche Anzahl an Pflegekräften.

Übrigens gab es 2019, als die Bertelsmannstiftung diese Idee in die Öffentlichkeit entließ, wohl 1914 Krankenhäuser in Deutschland (Quelle: Statista) statt 1.400. 600 von 1.400 sind 43%. 600 von 1.914 sind 31%. Die wollen mehr als 2/3 der Krankenhäuser in Deutschland schließen.

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