Die Erfindung des pflanzenförmigen Sprengstoffs

Donnerstag, 23.02.2023

Mirko Matytschak

Der renommierte amerikanische Journalist Seymour Hersh hat einen Beitrag geschrieben, der den Schluss nahelegt, dass die Sprengung der Nord Stream Pipelines unter Mithilfe der US Navy ausgeführt worden sein könnte. Das ruft die Faktenchecker auf den Plan. Und die leisten unglaubliches: Während sie Herrn Hersh als unglaubwürdigen Schwätzer demaskieren, erfinden sie nebenbei den pflanzenähnlichen Sprengstoff.

Die Faktenchecker-Redaktion der ARD hat mit Pascal Siggelkow einen Spezialexperten mit der Aufgabe betraut, den Journalisten Seymour Hersh zur umstrittenen Persönlichkeit zu machen. Hersh ist Träger des Pulitzer-Preises und hat unter anderem amerikanische Kriegsverbrechen im Massaker von Mỹ Lai an die Öffentlichkeit gebracht. 2004 veröffentlichte er Artikel zum Folterskandal im Abu-Ghuraid-Gefängnis in Bagdad. Man darf annehmen, dass dieser Mann in Kreisen, die das „Friendly Empire“ der USA propagieren wollen, ziemlich unbeliebt ist.

Nun hat Seymour Hersh einen länglichen Artikel auf Substack veröffentlicht, unter dem Titel „How America Took Out The Nord Stream Pipeline“. Hier trägt er Argumente vor, die dafür sprechen, dass die USA hinter der Sabotage an den drei Pipeline-Strängen stehen. Ich habe mich zu der Diskussion über die Schuldfrage an den Anschlägen bereits geäußert, ohne einen bestimmten Schluss nahezulegen.

Hersh beschreibt nun einige Details einer Under-Cover-Operation, die er von einer Quelle erhalten hat. Die Details unterstützen die Argumentation, dass die USA die Pipeline gesprengt haben. Ein paar Aussagen des Artikels sind von der Faktenchecker-Redaktion der ARD überprüft worden*. Das Resultat kann man hier nachlesen. Bleibt dran, wenn Ihr Euch nicht um die Pointe bringen wollt.

Sprengstoff in Pflanzenform?

Beim Durchlesen bin ich dann über einen längeren Abschnitt gestolpert. Darin geht es um die Frage, ob es wirklich stimmen kann, dass der Sprengstoff, der an den Pipelines angebracht wurde, zur Tarnung pflanzenförmig war. Das ist jetzt kein Absätzchen geworden, das ist ein Abschnitt mit 283 Wörtern in vier Absätzen. Es wurden Experten befragt, die sich der Frage widmen, ob ein solch pflanzenförmiger Sprengstoff überhaupt Sinn macht.

Beim Durchlesen dieser Zeilen beschlich mich ein seltsames Gefühl und ich suchte einmal nach einer entsprechenden Äußerung in Hersh’s Artikel. Da findet man folgenden Absatz:

That would be well within the range of the divers, who, operating from a Norwegian Alta class mine hunter, would dive with a mixture of oxygen, nitrogen and helium streaming from their tanks, and plant shaped C4 charges on the four pipelines with concrete protective covers.

Wer im Englisch-Unterricht aufgepasst hat, ahnt, was jetzt kommt. Aber lassen wir den Absatz einmal von Google übersetzen:

Das wäre gut im Bereich der Taucher, die von einem norwegischen Minenjäger der Alta-Klasse aus mit einer Mischung aus Sauerstoff, Stickstoff und Helium tauchen würden, die aus ihren Tanks strömt, und pflanzenförmigen C4-Ladungen auf den vier Pipelines mit Betonschutz Abdeckungen.

Das darf nicht wahr sein, oder? Lassen wir mal Bing ran:

Das wäre durchaus im Bereich der Taucher, die von einem norwegischen Minenjäger der Alta-Klasse aus mit einer Mischung aus Sauerstoff, Stickstoff und Helium aus ihren Tanks tauchen würden, und pflanzenförmigen C4-Ladungen an den vier Rohrleitungen mit Betonschutzabdeckungen.

Mich jedenfalls würden die verstümmelten Sätze der beiden Übersetzer von Google und Bing schon stutzig machen. Es sieht so aus, als ob die Übersetzer hier eine bestimmte Wendung nicht verstanden haben. Das Gerüst des Satzes sieht denn auch so aus:

That would be well within the range of the divers, who, …, would dive …, and plant ....

Das Wort „plant“ ist hier eindeutig ein Verb, das übrigens in Hershs Artikel noch zweimal in der gleichen Bedeutung verwendet wird. Die haben also „geformte C4-Ladungen“ an die vier Pipelines „gepflanzt“, was so viel heißt wie: fest angebracht.

Die ganzen 283 Wörter, die gesammelte Meinung von Experten, das alles ist völliger Käse. Hier ist geschlampt worden von einem „Journalisten“, der offensichtlich kein Englisch kann und daher Hersh‘s Artikel von Google oder Bing übersetzen ließ. Und die „Redaktion“ hat das durchgewunken. Das wird uns dann als Qualitätsjournalismus verkauft, der zur so wichtigen politischen Meinungsbildung in Deutschland (kurz: Propaganda) beiträgt. Und solche Ergüsse bestimmen darüber, ob Leute wie Seymour Hersh als umstritten bezeichnet werden.

Man könnte es so formulieren: Wer nicht die geistige Kapazität hat, einem Seymour Hersh ans Bein zu pissen, sollte halt einfach mal die Fresse halten. Oder etwas zivilisierter ausgedrückt:

si tacuisses, philosophus mansisses

 Der Schaden für die Glaubwürdigkeit der „Fakten“-Checker ist immens.

Update 28.02.2023: Der Abschnitt zum Thema „Pflanzenförmiger Sprengstoff“ wurde von der ARD-Redaktion ersetzt durch einen neuen Abschnitt und folgender Kommentar unter dem Artikel platziert:

Anmerkung: In einer früheren Version war von Sprengstoff "in Form von Pflanzen" die Rede. Dabei handelte es sich um einen Übersetzungsfehler. Hersh schreibt von "plant shaped C4 charges". Das Wort "plant" ist in diesem Fall jedoch nicht mit "Pflanze" zu übersetzen, sondern mit "platzieren". Der Absatz wurde korrigiert.

An Stelle von Herrn Siggelkow hätte ich den gesamten Artikel entfernt und an selber Stelle eine Entschuldigung an die Leser platziert.

__________

* Auffällig an diesem „Faktencheck“ ist, dass der Autor sich auf Details von Hersh's Artikel konzentriert, die eher Beiwerk sind, statt auf die Argumentationslinie zu achten. So legt er großes Augenmerk auf das in einem Nebensatz erwähnte Detail, dass die Operation von einem Minenjagdschiff der Alta-Klasse ausging. Ich nehme an, dass die Aussage ein Hinweis auf bestimmte Beteiligte ist.

Herr Siggelkow versucht, nachzuweisen, dass an dem BALTOPS22-Manöver kein Schiff dieser Klasse teilgenommen hat. Das mag sein, und ich kann es nicht beurteilen. Die Frage jedoch ist, ob es nicht äquivalente Schiffe gibt, von denen aus die Operation durchgeführt werden konnte. Das wäre ein interessanter Gegenstand für eine sorgfältige Recherche.

Ein weiteres Thema, an dem sich Herr Siggelkow festbeißt, ist die mehrfach geäußerte Behauptung von Seymour Hersh, dass bei der Operation C4-Sprengstoff verwendet wurde. Dies scheint für Hersh ein wichtiges Detail zu sein, offensichtlich wegen der Formbarkeit des Sprengstoffes.  Das führt ja letztlich zu dem Zitat, das von Herrn Siggelkow missverstanden wurde, in dem Hersh von shaped C4 charges spricht.

Siggelkow argumentiert, dass der Sprengstoff nicht effektiv genug ist. Wikipedia wiederum beschreibt den Sprengstoff als „sehr effektiv“. Ich verstehe Hersh etwa so, dass der Sprengstoff in einer bestimmten Weise geformt wurde, damit sich die Sprengkraft nicht in alle Richtungen verteilt, sondern hauptsächlich in Richtung der Röhren losgeht. Dafür gibt es sogar einen Fachbegriff: Shaped Charge. Die Frage der Tarnung der Sprengstoffe kommt bei Hersh im Übrigen überhaupt nicht vor.

Allerdings könnten durch die Explosion Spuren entstanden sein, die einen Hinweis auf die Urheberschaft des Anschlags geben könnten. Eins der Argumente für einen Anschlag von russischer Seite war, dass die Russen die Pipline von innen hätten sprengen können. Die Fotos, die vom Tatort vorliegen, lassen eher glatte Schnitte erkennen, die möglicherweise daher stammen, dass die Schweden bei ihrer Intervention die Rohrstücke mitgenommen haben (wobei mir nicht klar ist, wie man solche Schnitte erzeugen kann). Vielleicht stammen die glatten Schnitte aber tatsächlich von der Schneidwirkung der Spaped Charge.

Die Schweden waren in der Lage, die Spuren der Aktion zu verwischen. Allerdings ließe dies darauf schließen, dass Geheimdienstkreise in Schweden über die Anschläge informiert waren. Hersh wiederum versucht zu zeigen, dass Schweden nicht informiert waren – zumindest nicht vorab.

Wenn ich die Argumentationsketten von Herrn Siggelkow (abgesehen von dem Pflanzen-Lapsus) und von Herrn Hersh vergleiche, bin ich eher geneigt, Hersh’s Darstellung der Ereignisse zu folgen.

Kommentare

2 Kommentare zu diesem Beitrag

M · 28.02.2023 · Direkter Link

Herr Siggelkow hat seinem Artikel noch etwas eingepflanzt, was hier noch nicht zur Sprache kam. Er schreibt:

Auf Videos, die  die teilnehmenden Schiffe nach Ende des Manövers beim Einlaufen in den Kieler Hafen zeigen, ist solch eine Kammer jedoch auf keinem Schiff zu erkennen - auch nicht auf der norwegischen KNM Hinnøy

In dem Video sind 7 Schiffe zu sehen. Teilgenommen an der BALTOPS haben 47 Schiffe (Quelle).

Jetzt erklär mir mal einer, warum von den 47 Schiffen ausgerechnet das an der Operation beteiligte Schiff der ALTA-Klasse in Kiel eingelaufen sein sollte.

Apropos ALTA-Klasse. Siggelkow bezieht sich auf eine Analyse von Oliver Alexander (Quelle).

Was ich nachvollziehen kann, Oliver Alexander hat die Daten der Schiffe getrackt und deren Routen akribisch nachvollzogen, soweit hat Herr Siggelkow sein Pflänzchen gut gedüngt. Was ich allerdings nicht weiß, und hier muss ich den Konjunktiv bemühen, den sonst der Herr Siggelkow gern verwendet, ist, ich würde, wenn ich eine geheime Aktion durchführe, meinen AIS-Tracker abschalten, oder besser "spoofing" betreiben, also meine Spur verwischen.

Oliver Alexander geht leider in seiner sehr detaillierten Analyse lapidar genauso spekulativ auf "Spoofing" ein, wie ich, nur in der anderen Richtung:

There is no evidence that “spoofing” of the AIS data was used at any time during BALTOPS22

Das war es dann auch mit der Evidenz. Mehr gibt es zu "Spoofing" nicht zu sagen, gehen Sie bitte weiter.

Wenn ich mal weiter spekulieren darf, in Frage käme die Rauma, eines der zwei Schiffe der Alta-Klasse, die noch im Einsatz sind. Die war zu Wartungszwecken vom Januar bis Oktober 2022 in einem Dock. Beweise dafür habe ich keine. Und bitte auch nicht zwischen den Zeilen lesen, und mir unterstellen, ich würde in den Weißräumen meines Kommentars behaupten, die Rauma sei an dem Einsatz beteiligt gewesen. Ich will lediglich betonen, dass es noch andere Möglichkeiten als die von Herrn Siggelkow suggerierten Phrasen gibt. Bevor ich sie behaupten kann, müssen dafür Beweise vorliegen. Und das tun sie im Moment nicht. Herr Siggelow stellt hingegen seine bisweilen unfreiwillig lustigen, aber spekulativen Thesen als Tatsachenbehauptungen auf.

Begackern kann ich mich aber über das verlinkte Video über die 7 Schiffe. Das Video soll belegen, dass keine Dekompressionskammer an Bord eines Schiffes gewesen sein kann. 7 von 47 Schiffe sollen als Beweis herhalten. Ich würde sagen, ein Fall für den ARD Pflanzenfinder.

Mirko · 28.02.2023 · Direkter Link

„There is no evidence“ ist als Argument so ähnlich wie „Es kann nicht ausgeschlossen werden“. Angenommen, Argument A behauptet das Gegenteil von B. Wenn ich sage: „Es gibt keinen Beweis für A“, ist das noch lange kein Beweis für B. Mit der gleichen Berechtigung kann man sagen: „Es gibt keinen Beweis für B“ – solange man nicht sicher weiß, was wirklich vorgefallen ist. Und damit ist genau – nichts ausgesagt. Und so funktioniert dieser „Faktencheck“. Ein Haufen Wind für nichts. Es soll nur der Eindruck entstehen, als ob der Vollchecker mehr wüsste, als der Herr Hersh.