Demütigung durch Argumente

Samstag, 10.04.2021

Mirko Matytschak

Die ARD hat neulich einen Spielfilm mit Benedict Cumberbatch gesendet, mit dem Titel „Brexit – Chronik eines Abschieds“. Der Film ist gegenwärtig noch in der Mediathek abrufbar. Sieht man von der Überzeichung der Charaktere für das Spielfilmformat ab, bringt der Film die Dynamik der Kampagnen um den Brexit sehr gut zum Ausdruck. Ein Aspekt dabei hat mich besonders berührt: Die Demütigung durch Argumente.

Wer den Film sucht: Hier ist er in der Mediathek. Wenn Ihr nur 10 Sekunden habt, schaut Euch die Szene ab 1:13:18 an, besser aber die gesamte Diskussion ab 1:10:10. Das sind gut 3 Minuten.

Nimmt man die Theatralik des Spielfilms einmal beseite, sind darin die Fakten verarbeitet worden, die für den Verlauf der Brexit-Abstimmung entscheidend waren. So sieht man zum Beispiel, dass die Leave-Kampagne ihr Hauptargument, die 350 Mio £, die angeblich in der Woche an die EU überwiesen werden, frei erfunden hat. Und selbst wenn so viel Geld überwiesen worden wäre: Hat Großbritannien nach dem Brexit diese Summe tatsächlich zur Verfügung? Die Antwort ist natürlich: Nein.

Um aufzuzeigen, warum das so ist, sind ein paar Überlegungen nötig. Die Macher der Leave-Kampagne haben gewusst, dass ein gewisser Teil der Bevölkerung nicht willens oder nicht in der Lage ist, diese Überlegungen nachzuvollziehen.

Um das noch einmal klar zu machen: Sie haben wissentlich Falschinformationen verbreitet, um diese Kampagne zu gewinnen. Sie haben das Gerücht gestreut, dass 70 Mio Türken sich auf dem Weg nach Westeuropa machen, wenn die Türkei der EU beitritt. Das ist knapp die komplette Bevölkerungszahl der Türkei.

Sehr beeindruckt an dem Film hat mich die Szene bei 1:10:10, in der zufällig gewählte Teilnehmer zu einer Diskussion geladen wurden, weil die Remain-Kampagne wissen wollte, wie die Bevölkerung über den Brexit diskutiert. Was sind die Beweggründe hinter beiden Lagern? Die Antwort auf die Frage ist niederschmetternd: Es geht nicht um Argumente, es geht um ein tief verwurzeltes Minderwertigkeitsgefühl.

Schaut Euch die Szene an. Die Frau in der Szene unterliegt in der Diskussion, weil sie gar keine Argumente für ihre Forderung hat. Ihre Niederlage empfindet sie als Demütigung, so wie sie wahrscheinlich in ihrem Leben alle Situationen, in denen Argumente eine Rolle spielen, als Demütigung empfunden hat. Und das ist das Problem: Man kann diesen Teil der Bevölkerung nicht mit Argumenten erreichen.

Die Gesellschaft hat versäumt, ihnen diese Fähigkeit zu vermitteln. Und nun steht sie vor dem Problem, dass diese Personen nur noch mit einem gutturalen Gefühl zu erreichen sind.

Die Forderung nach Empathie

Ich habe am Anfang der Corona-Pandemie einen Artikel geschrieben, in dem ich erkläre, wie man diesen ominösen Wert R verstehen kann. Wir haben einen Faktor, mit dem man eine gegebene Ausgangsgröße multipliziert, und zwar in nachfolgenden Schritten immer wieder. So etwas nennt man eine Exponentialfunktion. Ich habe damals geschrieben: „Lassen Sie uns das kurz einmal nachrechnen. Ich verspreche, dass das ganz einfach wird.“ Dann folgt eine genaue Anleitung, wie man mit einem Tool wie Excel eine solche Zahlenreihe erstellt.

Danach folgen ein paar weiterführende Betrachtungen und auch ein paar mathematische Formeln. Der Artikel erschien immerhin im Blog „Software-Labor“ meiner Firma. Nun erreicht uns der folgende Kommentar in diesem Blog:

"Lassen Sie uns das kurz einmal nachrechnen. Ich verspreche, dass das ganz einfach wird."
Das ist eine sehr unempathische subjektive Darstellung der Realität (Lüge?), wenn dann massive, verschachtelte Berechnungen folgen.

Nachdem ich den Reflex einer schnellen Reaktion überwunden habe, befinde ich mich in einer schwierigen Situation. Wie können Personen, die so etwas schreiben, in einen demokratischen Diskurs eingebunden werden? Aber dann bricht es doch aus mir heraus:

Es ist Eure Verantwortung als Bürger in einer Demokratie, Euch um die Fähigkeit zu bemühen, in diesem Diskurs zu bestehen.

Ich frage mich nach dem Brexit-Film und diesem Kommentar: Welche Art an Empathie könnte in solch einer Situation noch hilfreich sein? Ich meine Situationen, in denen ein paar Überlegungen um eine Zahlenreihe, oder ein simpler Dreisatz zu einer Demütigung der angesprochenen Personen führen, die ich mir als Verursacher dann zuschreiben muss?

Haben jetzt automatisch immer diejenigen recht, die die einfacheren Argumente zur Hand haben, weil die komplizierteren Darlegungen oder "die mathematische Sichtweise" die Gefühle der angesprochenen Personen verletzen? Hieße Empathie jetzt,  Erkenntnisse zu opfern, zugunsten des Bauchgefühls des vergessenen Teils der Bevölkerung?

Falschinformationen in der Corona-Diskussion

In der Diskussion um die Corona-Pandemie sehen wir ja wieder Akteure auf dem politischen Parkett, die Falschinformationen verbreiten, als Mittel zum Zweck, weil ihnen die Einschränkung der Bürgerrechte wichtiger ist, als eine fachlich korrekte Auseinandersetzung über Pandemien – diesmal nicht nur von rechts, sondern auch von links.

Oh verdammt, "fachlich korrekt" ist ja schon wieder arrogant, weil ich damit für mich den Anspruch erhebe, korrekt zu diskutieren, während die anderen Sichtweisen als "falsch" erscheinen. Und das darf ich nicht, denn ich darf ja die Wahrheit nicht für mich pachten! Hier geht es aber gar nicht um die Wahrheit. Hier geht es um einen Diskurs nach bestem Wissen und Gewissen – und da kann übrigens auch jemand irren, der die Exponentialfunktion kennt.

Mensch Leute, die Linke steht historisch eigentlich für intellektuellen Anspruch*. Der Sozialismus hat angeblich ein wissenschaftliches Fundament, erinnert sich da noch jemand daran? Wenn ich mir die Diskussionen heute so anschaue, ist davon nichts mehr übrig. Und das treibt mich in die Verzweiflung.

Ihr benutzt die schlechteren Argumente und glaubt damit, die Vergessenen, die links liegen Gebliebenen erreichen zu können? Aber das ist ein Fehlschluss:

Ihr verliert die Glaubwürdigkeit UND die Vergessenen.

_________

* Das mit dem intellektuellen Anspruch sehe ich übrigens sehr gespalten. Einerseits habe ich etwas gegen die Idee, dass eine intellektuelle Elite die Menschen "in den Sozialismus" führt. Das haben wir bei Lenin gehabt und das Ergebnis hat mich alles andere als überzeugt. Andererseits habe ich erlebt, dass der intellektuelle Anspruch für Auseinandersetzungen gesorgt hat, in denen allen Teilnehmern schnell klar wurde, dass sie sich fachlich vorbereiten sollten.

Unterm Strich sehe ich keinen Sinn in einer Revolution, die nicht eine Lösung für das Problem der mangelnden Bildung in der Bevölkerung und dem daraus erwachsenden Minderwertigkeitskomplex parat hat. Die alten politischen Formeln der Linken werden es nicht richten.

Ich gebe jedoch gerne zu, dass ich selbst nicht weiß, wie wir das Problem lösen können.

 

Kommentare

3 Kommentare zu diesem Beitrag

Thomas Müller · 29.11.2022 · Direkter Link
Danke aus dem Jahr 2022, in dem eine gesellschaftliche Aufarbeitung der letzten 2 Jahre noch nicht wirklich begonnen hat. Aber vielleicht bald. Ihren Beitrag werde ich mir jedenfalls merken.
Mirko Matytschak · 29.11.2022 · Direkter Link

Es ergibt sicherlich Sinn, das Geschehen während der Pandemie noch einmal näher zu betrachten. Eine ernsthafte Reflektion aller Beteiligten über die eigenen Aussagen täte gut. Da käme so mancher Irrtum zum Vorschein. Zumindest geht es mir so. Ich habe im Verlauf der Pandemie viel gelernt und sehe heute vieles anders, als vor zwei Jahren. Eine Aufarbeitung jedoch, die nur darin besteht, auf die anderen mit dem Finger zu zeigen, bringt niemandem etwas.

Thomas Müller · 06.12.2022 · Direkter Link
Ganz recht, eine Auseinandersetzung ohne mit dem Finger zu zeigen oder den Finger auch nur zu erheben. Das wäre was. Aber geht das überhaupt?
Die faktische & wissenschaftliche Ebene ebenso berücksichtigen, wie die emotionale. Diese Anforderung an eine Aufarbeitung habe ich kürzlich gelesen und die ist sicher nicht falsch. Aber kann man die Ebenen auch gleich gewichten?
Die beschlossenen Maßnahmen waren als Kampf gegen die Exponentialfunktion mit mathematischen Mittel zu verstehen und damit sehr rational sicher oft nicht intuitiv nachvollziehbar. Das ganze auf unsicherer Datenbasis und bestimmt auch mit emotional bewertetem Risiko. Mit fortschreitender Zeit und politischen Reaktionen auf die Proteste wurden die Maßnahmen sicher auch zunehmend unverständlich. Aber immer noch zu verstehen -
und zu rechtfertigen - als Kampf mit mathematischen Mitteln gegen die Exponentialfunktion. Nicht
Es ist schwer von Allen die Einsicht zu verlangen, etwas mit zu tragen, was sie nicht verstehen. Das nötige Vertrauen kann man nicht einfach voraussetzen.
Andererseits finde ich, das Eingeständnis Mancher, dass sie Ihre komplette Verweigerung mit Lügen gerechtfertigt haben, das sollte man doch erwarten können. (Womit ich natürlich die Richtigkeit dieser Einschätzung voraussetze, weil ich sie für offensichtlich halte. Und schon zeige ich mit dem einen Finger und erheben den Anderen)