Was wir aus dem Brexit lernen können

Sonntag, 25.09.2016

Mirko Matytschak

Das Volk hat nun abgestimmt und die Briten werden wohl die EU verlassen. Was wie ein Argument gegen Volksentscheide aussieht, ist in Wirklichkeit ein Totalversagen der Erziehung zur Demokratie in unseren ach so freiheitlich demokratisch repräsentativ geführten europäischen Ländern.

Die Top-5 Google-Suchergebnisse in den Stunden nach der der Brexit-Entscheidung zeigen es ganz deutlich: Die Brexit-Abstimmung war nichts anderes ein gigantisches gutturales Grunzen – um es einmal in Kontrast zum Begriff einer demokratischen Volksabstimmung zu formulieren.

Die Spitzenreiter waren also Fragen wie:

  1. Was sind die Folgen des Brexit?
  2. Was ist die EU?

Ja, verdammt noch mal, kann man sich das nicht vor der Abstimmung überlegen? Offensichtlich kann „man“ das nicht.

Es konnte nur eine Fehlentscheidung werden

Es lässt sich damit klar sagen, dass die Entscheidung – unabhängig vom Ergebnis – in jedem Fall eine Fehlentscheidung war, weil ein Großteil derjenigen, die da abzustimmen hatten, keine Ahnung vom Gegenstand der Abstimmung hatte.

Zugegeben, es ist ein wenig komplex, die beiden genannten Fragen zu beantworten. Eine jahrelange Auseinandersetzung mit den politischen und gesellschaftlichen Themen des Alltags und eine Prise historischen Wissens können dabei nicht schaden.

Unabhängig vom Ergebnis war die Entscheidung auf jeden Fall eine Fehlentscheidung, weil es nicht nur den Wählern an Wissen fehlte, sondern weil es jahrzehntelang versäumt wurde, an den Schulen selbständiges politisches Denken zu lehren, das Menschen später befähigt, sich eine fundierte Meinung zu bilden.

Es reicht nicht, Schülern den Aufbau des Parlaments und die Vorteile unserer Freiheitlich Demokratischen Grundordnung als Wert zu vermitteln. Was bringt denn so eine FDGO, wenn sie einem bloß als zu verherrlichende Tatsache eingetrichtert wird, statt dafür zu sorgen, dass unsere Kinder Lust auf die Diskussion über die Frage bekommen: Was bringt uns das?

Kinder und Jugendliche müssen lernen, selbständig zu denken. Dann können sie selbst Antworten auf diese Fragen finden.

Fanbubis

Als ich mit 7 Jahren in den Kinderhort kam, fragte mich einer meiner Mitgefangenen: „Gehörst Du zu den 60ern oder zu den Bayern?“ Ich hatte keine Ahnung, wovon er sprach, weil die Welt der Bundesliga noch nicht in meinen Wahrnehmungskreis gelangt war. Das erste, was ich darüber lernte, war also, dass ich für irgendjemanden sein musste.

Wenig später musste ich mich wieder entscheiden: CSU oder SPD? Es gab tatsächlich Leute, die sich nicht entscheiden konnten. Die waren dann „Fans“ der FDP. In diesem Entscheidungsprozess gab es von Seiten der Schule überhaupt keine Unterstützung. Daheim hörte mein Vater die neuesten Nachrichten über Willi Brandt im Radio, trank einen Schluck Bier, rülpste und sagte: „Dieses Arschloch“. Das war politische Bildung im Jahr 1970.

Nun kam es aber doch dazu, dass ich es faszinierend fand, mich für etwas zu interessieren und selbständig Wissen darüber zu erlangen. Wie es dazu kam, ist eine Geschichte für ein eigenes Buch, das lasse ich hier aus. Aber eine der Folgen war, dass ich mich der Anti-AKW-Bewegung anschloss.

Was mich da am meisten nervte, waren die Typen, die nicht den Hauch einer Ahnung davon hatten, was Atomenergie war und warum sie gefährlich war. Sie stellten sich an die Infotische und erzählten den Leuten, dass Atomenergie Scheiße ist. Und dass die Mächtigen sich damit eine goldene Nase verdienen. Alles richtig, aber wenn es darum ging, die Aussage mit Argumenten zu unterfüttern, wurde die Luft dünne. Wir nannten solche Typen die Fanbubis, weil es eigentlich keinen Unterschied machte, ob sie grölend für einen Fußballverein oder für die Anti-AKW-Bewegung durch die Straßen zogen.

Wissen und Argumentation

Die Fanbubis standen ganz im Gegensatz zu denen in der Bewegung, die ich bewunderte. Die schafften sich nicht nur ein beachtliches Fachwissen drauf über Schweißnähte, Druckventile und Dosierungen. Die haben nicht nur die Schwächen der Atomanlagen analysiert, die haben sich auch mit den Standpunkten ihrer Gegner auseinandergesetzt.

Es gab ja schon damals sogenannte Wissenschaftler, die der Welt gegen Honorar erklärten, warum Atomenergie so wichtig ist und AKWs so sicher sind. Generationen von Menschen haben deren Argumente übernommen – bis hin zur Frau Merkel, die das wahrscheinlich heimlich im Westradio angehört hatte und erst durch Fukushima lernen musste, dass Atomkraft so gefährlich ist, dass ihre weitere Verwendung in Deutschland unweigerlich zum Verlust von Wählerstimmen führt.

Es gab Experten in der Anti-AKW-Bewegung, die die Argumente jener Wissenschaftler analysierten und ihre werbepsychologischen Methoden aufdeckten. Jeder in der Anti-AKW-Bewegung konnte mit vertretbarem Aufwand diese Analysen lesen und darauf basierend eine eigene Argumentation aufbauen. Aber was noch viel wertvoller war: Indem wir uns mit den Argumenten der Gegenseite auseinandersetzten, war das Hinterfragen unserer eigenen Position möglich.

Hier hebt sich die gelebte politische Verantwortung von Bürgern in einer Demokratie auf eine andere Ebene, als das bloße Dafür- oder Dagegensein, die bloße Delegierung der politischen Verantwortung an Parteien, die ja doch nur eine ununterscheidbare Lobby-Politik zugunsten derer veranstalten, die unsere Welt im Interesse ihres Profits vergiften.

Und so kommen wir zurück zu der Frage, von der meine Gedankenkette ausgeht: Was nützt eine Freiheitlich Demokratische Grundordnung mit Parteien, die man wählen kann, einer Presse, die angeblich die 4. Säule der Gewaltenteilung ist, wenn am Ende dennoch AKWs gebaut wurden, deren Betrieb extrem riskant ist und deren Müll tausende Jahre lang von den nachfolgenden Generationen sorgsam gehütet werden muss?

Wo ist der Fehler im System?

In einem Satz: Es fehlt komplett an einer demokratischen Kultur.

Was nützt es, die „Rechten“ zu verteufeln, wenn dabei wieder nur rechte und linke Fanbubis/mädis gezüchtet werden, statt Menschen, die sich mit Argumenten und Werten auseinandersetzen? Welchen Sinn soll es haben, nicht mehr mit jemandem zu sprechen, weil der mal öffentlich mit jemandem diskutiert hat, der sich mit jemandem gezeigt hat, der rechte Standpunkte vertritt?

Das so schlimme rechte Gedankengut ist doch nichts anderes, als gutturales Grunzen von Menschen, die es nicht anders gelernt haben. Gutturales Grunzen, das im UK zu einer Brexit-Entscheidung führt, das sich in Deutschland im Tortenwerfen zeigt oder zu der überaus geistarmen Provokation „Bomber Harris do it again“ führt. Hier gipfelt die Fanbubi/mädi-Mentalität in der Idee, dass die Vernichtung des politischen Gegners inclusive Kollateralschäden nur die Guten übriglasse, weil diese in einer anderen Region leben.

Das ist die direkte Folge einer Erziehung von Menschen zu Wählern, Menschen, die sich in ihrem jugendlichen Protest im richtigen Lager wähnen, in dem jeder Schwachsinn als Mittel zum Zweck geheiligt ist. 

Niemand braucht sogenannte Antifaschisten, die nur darauf aus sind, sich mit den Rechten zu kloppen und ansonsten nicht wissen, was Faschismus ist und welche gesellschaftlichen und psychologischen Faktoren dazu führen.

Niemand braucht Politiker der sogenannten Mitte, die mit markigen Sprüchen á la "Wer lügt, der fliegt" oder "Wir werden die Täter mit der ganzen Härte des Gesetztes bestrafen" nach Fans fischen. So lassen sich Wähler generieren und die politischen Gegner gleich mit: Fanbubis und Fanmädis, die den markigen Sprüchen folgen bis in die Diktatur.

Stoppt diesen Schwachsinn! Hört auf, Menschen zu Anhängern politischer Lager zu erziehen!

Eine Gesellschaft von Philosophen

Gelebte Demokratie ist die Erziehung von Menschen zu Philosophen, also Personen, die es lieben, sich mit sich und ihrer Welt auseinanderzusetzen, die es lieben, sich mit dem Standpunkt der Anderen zu befassen, und die es lieben, einen Gedanken zu Ende zu denken.

In einer so gelebten Demokratie sind Volksabstimmungen kein Problem und die Bedeutung der Parteien darf zurückgehen bis zu einem Punkt, wo wir sie nicht mehr brauchen. Das wird der Punkt sein, an dem es jungen Menschen Spaß macht, sich mit eigenständigen Gedanken am politischen Diskurs zu beteiligen.

Bis dahin haben wir leider Fanbubis, Rechte, Linke und saublöde Entscheidungen wie den Brexit.

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