Die Widerlegung der Widerlegung Freuds

Samstag, 12.03.2016

Mirko Matytschak

Ich treffe immer wieder Leute, die behaupten, Sigmund Freud sei widerlegt. Ich kann gar nicht in Worte fassen, wie seltsam mich dieser Satz anmutet. Da steht man vor dem knappen Meter Buchrücken der Gesamtausgabe Freuds und fragt: Was davon ist widerlegt? Durch welche andere Erkenntnis und von wem? Aber jetzt habe ich etwas Besseres. Ich drehe die Geschichte um und behaupte: Sigmund Freud ist bewiesen. – Okay, das klingt auch nicht besser. Also, dann so: Die Existenz des Eros kann in einem ganz simplen Versuch nachgewiesen werden. Das wiederum bestätigt die Grundannahmen der Psychoanalyse.

Es musste ein Philosoph kommen, um diese Arbeit zu leisten. Wo bleiben die Diplom-Psychologen, wenn man sie mal braucht? Die beschäftigen sich vielleicht gerade mit Werbepsychologie, Hirnvoodoo oder der Verhaltensforschung, während ihnen die Felle davonschwimmen...

Eine wunderbare Kraft

Nun aber zum Eros. Es war im Jahr 2014 auf dem jährlichen Kongress in der Fachklinik Heiligenfeld. Dort nahm ich an einem Workshop von Christoph Quarch über den Eros teil. Ich will mich nicht in den Einzelheiten dieses Workshops verlieren. Wen es interessiert, der kann sich im Jahresprogramm von Herrn Quarch umschauen und selbst mal einen Workshop mit ihm besuchen. Außerdem führt Herr Quarch einen lesenswerten Blog.

Der Workshop bestand aus drei Übungsteilen, die wir je in Kleingruppen durchführen sollten. Nach jedem der Übungsteile ließ Herr Quarch die Teilnehmer über ihre Übungen berichten. Danach fasste er das Gehörte zusammen, wobei seine Vortragsfolien zeigten, dass er sehr genau wusste, wohin diese Übungen führen würden. Ich will es aus dem Gedächtnis zusammenfassen und hoffe, Herrn Quarch damit gerecht zu werden. Unter diesem Vorbehalt waren die Ergebnisse folgende:

  • Es gibt eine beständig wirkende Kraft, die uns zusammenführen will.
  • Wenn Menschen zusammenkommen, sorgt diese Kraft für Handlungen, die bewirken, dass wir nicht an der Oberfläche bleiben, sondern mit unseren Gesprächen und Handlungen in die Tiefe gehen. In anderen Worten: Es gibt einen Antrieb, der dafür sorgt, dass wir uns vor anderen Menschen öffnen.
  • Diese Kraft, die uns zueinander führt, die uns voreinander öffnet, kann man in bester Tradition der Philosophie als Eros bezeichnen.

Das Setting, das man dafür braucht, um den Nachweis anzutreten, ist denkbar einfach.

Im Weiteren möchte ich Euch vorstellen, was für mich aus der genannten Zusammenfassung folgt.

Das Kräftespiel in der Psyche

Die Tatsache, dass man ein Setting braucht, um den Nachweis des Eros zu führen (genauer gesagt: einen geschützten Raum) zeigt, dass es Gegenkräfte gibt, die uns daran hindern, diese Kraft zu spüren und uns vor anderen zu öffnen. Das ist offenkundig, dann sonst würden wir in dieser Welt an unserer Naivität untergehen.

Diese Gegenkräfte können so stark sein, dass es Menschen gibt, die sich gar nicht mehr an ihren Eros erinnern können. Der Eros und alle damit zusammenhängenden Erlebnisse befinden sich in einem Raum der Psyche, der für diese Personen nicht oder nur mit großen Widerständen zugänglich ist.

Damit können wir folgendes festhalten:

  1. Es gibt einen Raum in der Psyche, in dem sich Erinnerungen an Erlebnisse befinden, die für uns nicht zugänglich sind. Wir könnten mit Freud diesen Raum das Unbewusste nennen und hätten damit das topologische Konzept der Psychoanalyse bestätigt.
  2. Es gibt ein Kräftespiel in der Psyche, bei dem auf der einen Seite der Eros, auf der anderen Seite die ihm entgegengesetzten Kräfte wirksam sind. Das ist im direkten Wortsinn die Bestätigung des dynamischen Konzepts der Psychoanalyse.
  3. Wenn es in der Psyche Kräfte gibt, die um die Bewusstheit von Erinnerungen und Emotionen und um die Ausrichtung unserer Handlungen ringen, dann stellt sich die Frage nach Art und Herkunft dieser Kräfte. Wenn wir uns zu dieser Frage vorgetastet haben, stehen wir unausweichlich vor dem ökonomischen Konzept der Psychoanalyse.

Der dritte Punkt ist leider nicht in einem Satz aus dem bislang Gesagten ableitbar. Wir brauchen einen kleinen Bogen.

Wenn der Eros zum Ziel gelangt

Was passiert eigentlich, wenn der Eros vollständig zu seinem Ziel gelangt? Also: Wir begegnen uns, tauschen uns auf der Oberfläche aus, sind bereit, in der Begegnung Stück für Stück unseres Schutzes aufzugeben. Wir sprechen angeregt, erzählen über Dinge, die uns in der Tiefe bewegen, es kommen kleine Berührungen dazu. Wir kommen an einem Punkt, an dem wir sagen können, dass wir in einer tiefen Beziehung mit einer Person stehen, unabhängig davon, ob er/sie als Liebesobjekt in Frage kommt.

Je nach sexueller Ausrichtung geht der Eros aber noch weiter. Aus den kleinen Berührungen werden intensive Berührungen, Küsse, wir geraten in den Rausch einer unwiderstehlichen Anziehung, die sich in eine sexuelle Begegnung steigert. Im Idealfall verläuft die sexuelle Begegnung in sanften Wellen, deren Erregungsniveau sich langsam aber sicher steigert, bis zu einem Punkt, an dem wir allen Schutz, alle Kontrolle über unser Handeln fallen lassen und auf einer Welle der Erregung mit dem Partner / der Partnerin ins Himmelreich segeln.

Zurück bleibt ein Gefühl der ruhigen Glückseligkeit.

Wir müssen nicht in diesem Gefühl zusammenbleiben. Wir kehren zurück in die Welt und gehen unseren Beschäftigungen nach, unserem Beruf, unseren Interessen. Anders gesagt: Die Kraft des Eros hat nach der höchsten Befriedigung vorübergehend nachgelassen.

Ein Modell ist nicht die Realität

Diese Eigenschaft des Eros führt uns zum ökonomischen Konzept der Psychoanalyse. Wir fragen uns: Warum bleiben wir nicht auf ewig der Kraft des Eros ausgeliefert und in einer jahrelangen Vereinigung aneinander kleben?

Sigmund Freud äußerte die Idee, dass der Eros in der Biologie wurzelt. Unter dem Vorbehalt, dass jede Analogie ihre Grenzen hat, kann man sich den Eros wie eine elektrische Ladung vorstellen, die nach Entladung strebt. Je mehr dieser Ladung aufgebaut ist, desto größer ist der Antrieb, der nach Entladung strebt. Ist die Entladung erfolgt, ist daher der Antrieb hinter dem Eros geringer. Dadurch kommen andere Handlungsantriebe zum Zug.

Nein, der Mensch ist kein Kondensator, das Bild hat also seine Grenzen. Es ist ein kleines Modell, das für die Darstellung eines begrenzten Phänomens ausreicht.

Viele der Kritiker Freuds haben übersehen, dass ein Modell nie die Realität selbst ist. Das gilt für die Psychologie ebenso, wie für die Physik. Die Frage ist: Können wir mit diesem Modell in der Praxis arbeiten? Und die Antwort ist zumindest für mich: Ja, ich kann. Die körperorientierte Psychotherapie basiert auf einem umfassenderen Modell, das wesentlich mehr Phänomenen gerecht wird, denen wir in der Arbeit mit Menschen begegnen. Dieses umfassendere Modell ist für mich eine sehr gute Arbeitsgrundlage, bis jemand ein Modell liefert, das mir besser geeignet scheint. Im Kern basiert dieses umfassende Modell auf dem beschriebenen einfachen Modell.

So ist das mit den Modellen: Sosehr die Kirche auch das ptolemäische Weltbild durchsetzte, das kopernikanische Modell ergab die genaueren astronomischen Daten und diese wurden daher von den Seefahrern vorgezogen.

Kommen wir zurück zum Ausgangspunkt. Die Basis der klassischen Psychoanalyse nach Sigmund Freud basiert auf drei Konzepten:

  • Dem topologischen Konzept – in der Psyche gibt es verschiedene Regionen
  • Dem dynamischen Konzept – in der Psyche wirken Kräfte
  • Dem ökonomischen Konzept – Befriedigung führt zu einer Verschiebung des Kräftespiels in der Psyche

Diese Basis lässt sich in einfachsten Versuchen bestätigen, und genau dies hat Herr Quarch in seinem Workshop getan.

Fazit

Wir müssen nicht jede Äußerung Freuds, die vom Zeitgeist der vorletzten Jahrhundertwende bestimmt ist, in die heutige Zeit übernehmen. Aber die Basis seiner Erkenntnisse bleibt bis heute bestehen. Unsere Aufgabe ist es, diese Erkenntnisse mit dem Wissen zu kombinieren, das wir in den letzten 100 Jahren dazugewonnen haben.

Wer also behauptet, Freud sei „widerlegt“, begibt sich in den Bereich des uninformierten Populismus. Hier könnte dieses Buch hilfreich sein. Es ist eine leicht zu lesende Primärquelle, die sich wunderbar mit unserem heutigen Wissen kombinieren lässt.

Update

Von Christoph Quarch gibt übrigens es einen sehr schönen Text zum Thema medizinische Wissenschaft vs. Heilkunst.

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