Die Krux mit Wahrheit, Fakten und Wissen
Sonntag, 05.10.2025
Ich möchte einmal ein paar Begriffe klären, über die offensichtlich etwas Verwirrung herrscht. Es kann nur förderlich für Gespräche sein, wenn sich alle Beteiligten über die verwendeten Begriffe im Klaren sind. Aber wie das so ist, mit der Klarheit: Sie kann manchmal ganz schön verwirrend sein.
Der schwierigste Begriff, der in einer Diskussion fallen kann, ist der Begriff „Wahrheit“. Wenn ich den Begriff nur höre, muss ich aufpassen, dass bei mir nicht die Klappen herunterfallen, nach dem Motto: Da brauchst Du gar nicht weiter zuhören, da kann nichts mehr Vernünftiges nachkommen. Ich höre natürlich trotzdem weiter zu. Ganz besonders schwer fällt mir das dann, wenn die „Wahrheit“ teilbar wird: „Das ist Deine Wahrheit und meine Wahrheit ist halt anders“. Was immer bei Dir anders ist: Das kann man dann nicht mit dem Begriff Wahrheit bezeichnen. Das habe ich in diesem Beitrag schon einmal darzustellen versucht.
Das Problem mit der Wahrheit
Schwierig ist an dem Begriff, dass er einige Voraussetzungen unterstellt. Zum Beispiel, dass es eine Realität gibt, die von uns Menschen unmittelbar wahrgenommen werden kann. Über diese Realität können wir dann Aussagen treffen. Wenn eine solche Aussage in einem logischen Sinn wahr ist, kann sie nicht gleichzeitig falsch sein, wobei mit falsch hier nicht das Gegenteil von richtig gemeint ist, sondern das englische false. Im Englischen haben wir getrennte Gegensatzpaare true und false vs. right und wrong. Und hier geht es um true und false.
Also: Wenn es eine Realität gibt und wir Menschen diese unmittelbar wahrnehmen können, dann gibt es Aussagen über diese Realität, die unzweifelhaft wahr sind. Solche Aussagen sind mit dem Begriff Wahrheit gemeint. Mit der Verwendung des Begriffs handelt man sich also die ganzen Vorbedingungen ein, die zutreffen müssen, damit der Begriff sinnbehaftet verwendet werden kann.
Realität und Wahrnehmung
Was hat es nun mit der Realität auf sich? Die Realität ist ein Konstrukt, eine Annahme, dass es wirkliche, reale Dinge gibt, die bestimmte Eigenschaften haben, zum Beispiel, indem sie elektromagnetische Schwingungen in Form von Licht und Wärme von sich geben, Schall aussenden oder weich, hart, nass etc. sind. Zu diesem Konstrukt gehört die Annahme, dass wir Menschen mit Sinnen ausgestattet sind, die diese Eigenschaften der Realität, die uns umgibt, wahrnehmen können. Die Sinnesorgane erzeugen nun eine Projektion der wahrgenommenen Informationen in unserem Gehirn.
Die Realität hat Eigenschaften, aber die nehmen wir nicht direkt wahr, sondern wir können nur die Projektionen in unserem Gehirn wahrnehmen. Fragen Sie mal eine Fledermaus, wie sie ihre Umgebung wahrnimmt. Die wird ein völlig anderes Bild von der Realität haben, als wir.
Noch eine kleine Eigenheit dazu: Wir wissen, dass unsere Augen Rezeptoren für die Farben Rot, Grün und Blau haben. Daraus setzt unser Gehirn die Farbwahrnehmung zusammen. Aber nicht direkt. Könnt Ihr Euch eine Farbe vorstellen, die aus 20% Rot, 56% Grün und 88% Blau besteht? Unser Gehirn verarbeitet die Impulse aus unseren Augen so, dass wir Farben auf zwei Achsen wahrnehmen: Von Blau bis Gelb und von Rot bis Grün. Dazu kommt noch eine Helligkeitsachse. Könnt Ihr Euch eine Farbe vorstellen, die aus 80% Gelb und 10% Grün besteht? Das geht schon eher.
Die Realität ist in Wirklichkeit ein Bild
So weit, so gut. Wir nehmen also an, dass es eine Realität gibt und dass wir aufgrund von Sinneseindrücken in unserem Gehirn ein Bild zusammenbasteln, was diese Realität sein könnte. Die Schwierigkeit daran ist, dass wir das nicht beweisen können. Ich schreibe diesen Beitrag auf meinem Computer in der Annahme, dass es der eine oder andere lesen wird. Aber ich kann nicht wissen, was davon simpel ein Traum ist und was davon Realität ist. Es ist schlichtweg unbeweisbar, dass es diesen Computer gibt und dass es andere Menschen gibt, mit denen ich kommunizieren könnte. Das kann alles Einbildung sein. Die Matrix lässt grüßen.
Die Welt wäre eine ziemlich komplizierte Angelegenheit, wenn wir in jedem Gedanken die Möglichkeit berücksichtigen müssten, dass die Realität gar nicht real ist. Und daher gibt es eine Übereinkunft, eine Konvention, die unserer praktischen Kommunikation zugrunde liegt: Es gibt eine Realität und wir können diese wahrnehmen. Und zu dieser Realität gehören gleichartige Wesen, mit denen wir uns austauschen können.
Aber ein Problem bleibt: Jede Person hat ihre ureigene Projektion der Realität auf der Heimkinoleinwand ihrer Wahrnehmung. Für dieses Phänomen gibt es auch den Begriff Perspektive.
Eine kleine Randbemerkung möchte ich in diesem Kontext noch anbringen. Viele Wissenschaftler vor allem aus dem Bereich der Physik neigen zu der Annahme, dass wir, indem wir ein Teil der Natur sind, diese auch verstehen können, als sei es eine Eigenschaft der Natur, dass sie verstehbar ist.
Es gibt auch Schulen, die vermuten, dass wir nicht nur unsere fünf Sinne für die mechanistische, mittelbare Wahrnehmung der Realität haben, sondern dass die Felder, in denen wir uns bewegen und die wir mit unserer Lebensaktivität mitgestalten, unmittelbar wahrgenommen werden können. Wenn dem so wäre, dann könnten wir Realität direkt wahrnehmen und daraus folgend tatsächlich Wahrheit formulieren.
Fakten
Kehren wir zurück zur Konvention, zur Ausgangsbasis, auf der wir uns austauschen können. Es gibt eine Realität, die wir erfahren können, und über diese Erfahrung können wir uns austauschen. Es gibt damit eine gewisse Vergleichbarkeit der Erfahrungen. Menschen beobachten, dass es gewisse Ereignisse gab und haben eine ähnliche Einschätzung dazu: Der Wechsel von Tag und Nacht, Ereignisse wie Regen, Gewitter, Sonnenschein, Hagel, Schnee, etc. Über solche Erfahrungen kann relativ einfach ein Konsens gebildet werden. Wo unsere Sinne nicht ausreichen, helfen Messinstrumente. Die Messungen lassen sich vergleichen, die Resultate können interpretiert werden, etc. pp. Das begründet die empirische Wissenschaft.
Jede dieser Beobachtungen lässt sich als Fakt bezeichnen. Aber ganz so einfach ist es nicht. Ich habe einen rosa Elefanten beobachtet. Für mich ist das ein Fakt. Andere mögen das in Zweifel ziehen. Da müssen jetzt ein paar Sachen dazukommen. Ich könnte zum Beispiel sagen: Wenn Ihr nachmittags zwischen 14 und 16 Uhr an einer bestimmten Tränke in der Savanne seid, ist die Wahrscheinlichkeit, dass der rosa Elefant auftaucht, relativ hoch. Auf diese Weise lässt sich die Beobachtung wiederholen (reproduzieren). Und dadurch wird meine höchst persönliche Beobachtung zum Fakt (vorausgesetzt natürlich, dass alle Beteiligten vorher dasselbe geraucht haben 😉).
Der Begriff Fakt wird heutzutage fast synonym mit dem Begriff Wahrheit verwendet. Das stiftet Verwirrung. Eigentlich meint man damit das objektiv Beobachtbare. Das kann man dann sehr schön sehen, wenn die Polizei darüber berichtet, wie viele Personen an einer Demonstration teilgenommen haben. Es gibt eine Tendenz, diese Zahl möglichst gering zu halten, möglicherweise wegen der Annahme, dass bei der nächsten Demonstration mehr Teilnehmer kommen, je mehr Teilnehmer auf der vorangegangenen Demonstration waren.
Unter derselben Annahme geben die Veranstalter tendenziell zu hohe Schätzungen ab. Daran kann man sehen, dass das Objektive am objektiv Beobachtbaren so seine Tücken hat.
Alternative und falsche Fakten
Ein besonders schönes Beispiel für diese Art Tücken war die Amtseinführung von Donald Trump 2017. Der Pressesprecher des neu gewählten Präsidenten gab damals an, dass bei Trumps Amtseinführung wesentlich mehr Menschen anwesend waren, als bei Obamas Amtseinführung. Das wollten die politischen Gegner nicht so stehen lassen. Herangezogen wurden Luftaufnahmen und Zahlen aus dem Personennahverkehr. Die Beraterin Trumps, Kellyanne Conway, wurde in einem Interview gefragt, wie der Pressesprecher auf die Idee kam, eine solche Behauptung aufzustellen, wo doch die Fakten klar dagegen sprächen. Da sagte die Frau Conway: „Er hatte alternative Fakten“.
Eine ähnliche Begriffsbildung gab es in der Diskussion über die Höhe der 2024 an die NATO gemeldeten Verteidigungsausgaben. Frau Wagenknecht hatte behauptet, dass diese 90 Mrd. € betrugen. Das brachte ihr den Vorwurf einer gewissen Frau Kohl ein, „falsche Fakten“ zu verbreiten. Ich habe mich an anderer Stelle bereits damit beschäftigt, das könnt Ihr dort nachlesen. Mein Fazit damals: Es gibt keine falschen oder richtigen Fakten. Eine Aussage ist entweder ein Fakt oder es ist kein Fakt.
Im Fall von Trump hat man schlichtweg nicht nachgezählt. Die Luftaufnahmen erlauben eine Schätzung, mehr aber auch nicht. Damit beruht aber auch die Aussage des Pressesprechers nicht auf Fakten. Frau Wagenknechts Aussage hingegen beruht auf einem Fakt: Die NATO hat veröffentlicht, wie viel die Mitgliedsstaaten als Rüstungsausgaben gemeldet haben. Deutschland hat laut NATO 2024 exakt 90 Mrd. € gemeldet.
Die Lüge
Die Lüge ist nicht das Gegenteil der Wahrheit. Es ist die bewusste Verbreitung von unzutreffenden Behauptungen, also Behauptungen wider besseren Wissens. Eine Behauptung, die nicht durch Fakten gedeckt ist, die aber bei bestem Wissen und Gewissen getroffen worden ist, ist keine Lüge. Im Übrigen lese ich keine Bücher, in deren Titel eins der beiden Wörter Lüge oder Wahrheit auftaucht.
Es ist gemacht
Nachdem ich die Bedeutung des Begriffs Fakt (bzw. Faktum) umrissen habe, können wir alles wieder auf Null stellen. In der Wortbedeutung heißt nämlich Factum „Gemachtes“. Damit wäre es eben nicht das „Beobachtete“, sondern das „Geschaffene“. Die Wurzel liegt im religiösen Bereich, wie die Wikipedia weiß, die Fakt und Tatsache im Übrigen als synonym betrachtet:
Tatsachen sind Geschehnisse, die als Handlungen Gottes aufgefasst werden.
Das geht auf die Idee der Schöpfung zurück: Dass die sachliche Realität eine Folge der Taten Gottes ist.
In dem Wikipedia-Artikel fällt auf, dass ein neuer Begriff eingeführt wird, nämlich Sachverhalt, der nicht identisch mit Tatsache bzw. Fakt ist. Vom Wortstamm her haben wir es hier mit dem Verhältnis der Dinge zueinander zu tun. Es folgt ein schönes Zitat von Wittgenstein:
- „Die Welt ist die Gesamtheit der Tatsachen, nicht der Dinge.“
- „Was der Fall ist, die Tatsache, ist das Bestehen von Sachverhalten.“
- „Der Sachverhalt ist eine Verbindung von Gegenständen. (Sachen, Dingen.)“
- „Das Bestehen und Nichtbestehen von Sachverhalten ist die Wirklichkeit.“
Der Herr Wittgenstein hat sehr gerne in Aphorismen geschrieben, es braucht also ein wenig Nachdenken, um sich diesem Zitat zu nähern. Wenn Ihr damit durch seid, könnt Ihr mir gerne Eure Erkenntnisse mitteilen.
Wissen und Wissenschaft
Ich weiß nicht, wie es Euch geht, aber wenn ich meine Gedanken in das Bermuda-Dreieck zwischen Tatsachen, Sachverhalten und Wirklichkeit versenke, dann kommt alles Mögliche dabei heraus, nur keine praktische Anwendbarkeit des Begriffs Fakt. Ich denke, wir tun uns alle leichter, wenn wir hier eine Vereinfachung zulassen und zurückkehren zur vorhin angedeuteten Begriffsbestimmung: Fakt ist, was wir beobachten oder messen können.
Hier kommt uns jetzt der Immanuel Kant zur Hilfe, der über Objekte der Erkenntnis sagt:
Erkennbare Dinge sind nun von dreifacher Art: Sachen der Meinung ( opinabile ), Thatsachen ( scibile ) und Glaubenssachen ( mere credibile ).
Zunächst einmal sollten die Fakten nicht mit Wissen oder Erkenntnis verwechselt werden. Wissen basiert auf der Interpretation der Fakten in Modellen. Wir erinnern uns an den Abschnitt über die Realität: Wir nehmen die Realität nicht unmittelbar wahr, sondern wir bilden uns ein Modell der Realität, sowohl in unseren privaten Weltbildern, als auch in der Wissenschaft. Glaubwürdig erscheinen uns Modelle, die in unserem Gehirn zu einem kohärenten Gebilde zusammengesetzt werden können. Und dabei ist wichtig: Kohärenz ist kein Indikator für den Grad, in dem ein Modell die Realität spiegelt. Auch Wahngebilde können kohärent sein.
Wir können jetzt sagen, dass sich gute Wissenschaft dadurch auszeichnet, dass sie ihre Modelle immer wieder Härtetests unterzieht. Eine sehr schöne Beschreibung dieses Vorgangs findet sich gleich ziemlich am Anfang in dem Buch „Warum alles gut wird“ von Dr. Lukas Neumeier. Die Härtetests, in denen versucht wird, einzelne Aussagen der wissenschaftlichen Modelle zu widerlegen, machen den Unterschied zwischen der Wissenschaft und unseren eher privaten Modellen für den Hausgebrauch aus. Aber ansonsten bleibt festzuhalten:
Wissenschaft erzeugt Glaubensgebäude mit einer großen Kohärenz. Diese Gebäude sind durchaus über die Zeit veränderbar1. Es bleiben von unseren drei Objekten der Erkenntnis nur noch zwei übrig: Glauben und Meinung.
Die Versorgung mit Fakten außerhalb der Wissenschaft
Was wir von der Meinung zu halten haben, bringt Friedrich Nietzsche auf den Punkt. Er fragt sich, warum Menschen Lesen und Schreiben lernen, wenn sie diese Fähigkeiten dann nutzen, um Zeitungen lesen.
Journalismus könnte etwas Wunderbares sein: Die Versorgung der Bevölkerung mit Fakten. Die Meinungsbildung, sprich: das Zusammenstellen kohärenter Modelle auf Basis der Fakten läge dann beim Leser. Stattdessen erhalten wir wohl schon seit den Zeiten Nietzsches vorgefertigte Meinungen und bewusste Manipulation in gedruckter Form2.
Aber warum ist das so? Wäre es nicht für die gesamte Menschheit besser, die Meinungsbildung zu trainieren, indem ausschließlich die Fakten und ein wenig Wissen über Theoriebildung vermittelt würde? Zur Meinung gehört laut Kant das, was wir uns denken können, was aber nicht unbedingt real ist. Was die Visionäre der Menschheit sich gedacht haben, war im Prinzip nichts anderes, als eine wohl gebildete Meinung.
Die Menschen leiden an einer Jahrhunderte alten Seuche, die sie in zwei Gruppen unterteilt: In macht- und geldgeile Eliten und eine autoritätshörige Mehrheit, die diesen Eliten immer und immer wieder die Macht über ihr Leben gibt. Journalismus – egal in welchem Medium – dient unterm Strich der Zementierung dieser Seuche – mit wenigen Ausnahmen.
Der Gegenentwurf dazu wäre die wohl gebildete Meinung eines Großteils der Menschen, die eine ungeheure Vielfalt an Visionen erzeugen könnte, wie sich die menschliche Gesellschaft weiterentwickeln könnte. Dieser Reichtum an Meinungen wäre die Grundlage eines völlig neuen Gesellschaftssystems: Der Demokratie. Bis es dazu kommt, gibt es jedoch noch viel zu tun.
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1 Man denke nur an die Relativitätstheorie, die das bisherige Verständnis des Universums ganz schön durcheinander gebracht hat. Auch die Quantenmechanik birgt bis heute noch manche Überraschung.
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