Der Wille zur Macht
Sonntag, 07.09.2025
Ihr wisst möglicherweise, dass Friedrich Nietzsche einen „Willen zur Macht“ postuliert hat. Ich stolpere ab und an über Interpretationen, die menschliche Hierarchiebildungen mit allen Folgen, wie zum Beispiel den Machtmissbrauch als „typisch menschlich“ bezeichnen und sich dabei auch noch auf Nietzsche berufen.
Dem sei in Kürze entgegengestellt, dass ein schlechtes Argument nicht dadurch besser wird, dass man den Namen Nietzsche dranhängt. Bei uns ist der Begriff „Macht“ negativ konnotiert, was sicher mit den negativen Erfahrungen der jüngeren Geschichte zu tun hat. Dabei wird übersehen, dass Macht nicht notgedrungen die Macht über andere Menschen bedeutet. Für die Leute, die eine Zusammenfassung im Sinne von Too Long, Didn't Read benötigen: Bei Nietzsches „Willen zur Macht“ geht es um die Macht des Menschen über sein eigenes Leben.
Wir können uns dem Begriff am besten nähern, wenn wir das passende Verb ermächtigen betrachten. Der Wille zur Macht strebt nicht nach einem statischen Zustand der Macht, sondern ist treibende Kraft für einen ständigen Prozess der Ermächtigung. Diese Ermächtigung besteht im Wesentlichen aus zwei Schritten:
- Die intellektuelle Auseinandersetzung mit der Welt, die uns umgibt, und deren Teil wir sind. Wir bemächtigen uns des Wissens oder besser: des Verständnisses der Welt und unserer Rolle darin. Salopp gesagt: Wir schaffen uns die Erkenntnis drauf, die zum zweiten Schritt führt:
- Wir setzen die Erkenntnis um und nehmen damit aktiv Einfluss auf unser Leben. Oder anders gesagt: Wir gestalten unser Leben. Das ist unsere Selbstermächtigung, das Erlangen der Macht über unsere Lebensgestaltung.
Das wäre an sich noch trivial und mit Gedanken des „idealen“ Menschen vereinbar. Das ist aber genau das Thema, von dem sich Nietzsche distanzieren will.
Verantwortung
Indem wir die Macht über unsere Lebensgestaltung erlangen, fällt uns auch die Verantwortung zu.
Der Begriff Verantwortung schillert ein wenig. Wir können zwei Aussagen treffen:
- Ich übernehme die Verantwortung und daraus resultiert die Macht über meine Lebensgestaltung.
- Ich übernehme die Macht über meine Lebensgestaltung und trage die Verantwortung: für die Konsequenzen aus meiner Wahl, was immer sie sein mögen.
Ihr seht, dass wir hier eine Reihenfolgenthematik haben. Was ist hier Ursache und Wirkung? Beide Sätze entsprechen sich, und darin liegt eine unglaubliche Schönheit, über die nachzudenken sich lohnt.
Passend hierzu ein paar Zeilen aus dem Song Deacon Blues der Band Steely Dan:
Learn to work the saxophone
I play just what I feel
Drink Scotch whiskey all night long
And die behind the wheel
Ich habe eine ganze Weile die Zeile „And die behind the wheel“ nicht verstanden. Ist der Protagonist so verzweifelt, dass er sich hinter den Zug wirft? Nein, Scherz beiseite: Die Zeile meint: Wenn ich schon untergehe, möchte ich am Steuer sitzen.
Das ist der Kern des Begriffs „Wille zur Macht“: Der Wille zur Selbstermächtigung, mit allen Konsequenzen. Es gibt kein Schicksal mehr, es gibt keine bösartigen Personen, die mir meinen Traum zerstören. Es gilt für den Werdegang des Individuums mit all seinen Konsequenzen dieser eine Satz:
Ich habe es so gewollt
Meine Empfehlung an den geneigten Leser (und natürlich an die geneigten Leserinnen): Macht eine kurze Pause und lasst diesen Satz mal sacken.
Begebenheiten aus meinem Leben
Ich möchte das Gesagte ein wenig unterfüttern durch ein paar Begebenheiten aus meinem Leben. Ich bin auf den Tipp eines Schulfreundes auf Sigmund Freud gestoßen. Ich war gerade 16 Jahre alt. Er stellte mir auf dem Schulhof die Frage, ob ich glaube, dass Träume eine Bedeutung haben. Ich hatte zu dem Thema kaum eine Ahnung und konnte eigentlich nichts Brauchbares dazu beitragen. Da empfahl mir der Schulkamerad das Buch „Die Traumdeutung“ von Sigmund Freud.
Zugegeben: Das war harter Stoff für mich, da ich bis dahin keinerlei Erfahrung im Lesen von Fachliteratur hatte. Ich kämpfte mich durch das Buch und was fasziniert über die Welt, die sich hier auftat. Ein, zwei Jahre später kam von demselben Freund (dem ich mein bisheriges Leben lang freundschaftlich verbunden geblieben bin) der Tipp, Wilhelm Reich zu lesen. Ich brauchte eine Weile, bis ich mich daran machte und las mit so 19, 20 Jahren die Bücher „Der Krebs“ und „Charakteranalyse“.
Danach war mir klar: Ich musste eine solche Therapie machen. Ich hatte ein Ziel: Ich wollte etwas Bedeutendes bewegen, ich wollte genial werden. Ich war mir aber im Klaren darüber, dass aus den Verhältnissen, in denen ich aufgewachsen war, kein Mensch gesund hervorgehen kann. Nun hatte ich gerade durch die Lektüre von Reich gelernt, dass ein neurotischer Charakter das Denken und Wirken beeinträchtigen kann. Das legte die Folgerung nahe, mich einer Therapie zu unterziehen.
Besagter Freund hatte herausgefunden, dass es in Europa (genauer gesagt: in Rom) einen einzigen aktiven Therapeuten gab, der die Reich’sche Orgontherapie, eine Form an körperorientierter Psychotherapie, ausübte. Ich rief mit klopfendem Herz dort an und vereinbarte einen Termin.
Was ich nicht wusste und nicht sehen konnte: Ich hatte tatsächlich massive psychische Probleme. Mein Ziel, genial zu werden, hatte mit diesen Problemen zu tun. Aber nun befand ich mich in einem Prozess, in dem sich Schritt für Schritt das Bewusstsein für meine tatsächliche Realität auftat. Mit einigen Pausen brauchte ich sieben Jahre, bis ich die Therapie – in meinen Augen erfolgreich – beendete. In den sieben Jahren nahm ich etwa 100 Sitzungen, und ich kann sagen, dass diese jeden Pfennig wert waren, den ich dafür ausgegeben habe1.
Lasst uns diese Erzählung einordnen. Im ersten Schritt stand die Faszination über die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der menschlichen Psyche. Diese Faszination hat mich durch einen durchaus schwierigen Prozess getragen: Ich habe die Lernkurve überwunden und mir Erkenntnis „draufgeschafft“. Im zweiten Schritt habe ich diese Erkenntnis in praktische Schritte umgesetzt, die einen massiven Einfluss auf mein Leben hatten.
Vom Opfer zum aktiven Faktor für das eigene Leben
Ich war vorher Opfer meiner Verhältnisse, wie ein Kind nur Opfer sein kann2. Nun befinden sich Kinder und Jugendliche allgemein nicht gerade in der Situation, in der sie sich als Herren ihres Lebens bezeichnen könnten. Ihnen bleibt nicht viel mehr, als die Rolle des Opfers, wenn sie in Umgebungen mit kranken Menschen aufwachsen. Und das war in der Zeit meiner Kindheit das Schicksal von so ziemlich allen Kindern.
Aber als ich sechzehn Jahre alt war, zeigte sich ein Weg: Er begann mit einem Buch, von dessen Existenz die meisten Menschen in meinem Umfeld nicht auch nur den Hauch einer Ahnung hatten. Das Lesen dieses Buches veränderte alles. Hier begann meine Ermächtigung. Vieles von dem, was danach geschah, war eine Folge meiner Entscheidung, dieses Buch zu lesen.
Und daraus folgte – fast notwendigerweise – der zweite Schritt: Ich wusste, dass es diese Formen an Therapie gab und es wäre mir in einem unerträglichen Maß inkonsequent erschienen, mich darauf nicht einzulassen.
Bevor wir nun in eine Friede-Freude-Eierkuchen-Geschichte mit „und wenn er nicht gestorben ist…“ abdriften, sei gesagt: Ich habe mich damit für eine Biographie entschieden, die zunächst einmal nur steinige Wege für mich bereithielt. Während andere Menschen in meinem Alter sich ihrer Karriere widmeten, durchschritt ich so manches Tal meiner Stimmungen. Aber ich las auch manches gute Buch und freute mich darüber, immer wieder ein paar schöne Perlen der Dichtkunst zu produzieren. War es das wert? Nun… Die Bereitschaft, durch diese Täler zu gehen, lässt sich in einem Satz zusammenfassen:
Ich habe es so gewollt!
Damit kommen wir wieder zurück zum Thema: Der Wille zur Macht. Es ist der Wille zur Ermächtigung. Aber was wäre die Ermächtigung, ohne die konkreten Schritte im Leben als Konsequenz? Und wenn Du einmal auf diese Weise die Macht über Dein Leben erobert hast, gibt es kein zurück. Du nimmst in Kauf, was sich daraus ergibt und siehst es als Konsequenz Deines Willens zur Macht.
Wenn Ihr mir bis hierher folgen konntet (und wolltet) und vielleicht schon ein wenig an der Restaurierung Eurer Idealbilder vom bewussten Menschen gearbeitet habt3, kommt hier erneut eine Ernüchterung.
Übermensch vs. Hornvieh
Nietzsche lehrt den „Übermenschen“, das sind Individuen, die auf ihre Weise die Macht über ihr Leben erobert haben. Wenn ich Nietzsche richtig verstehe, liegt diese Entwicklung zum Übermenschen in der Natur des Menschen. Sie ist unvermeidlich. Aber wenn dem so ist: Warum machen so wenige Menschen davon Gebrauch?
Wir müssen Nietzsches Werk in einen zeitlichen Kontext stellen. Er ist im Jahr 1900 gestorben. Vier Jahre davor veröffentlichte ein junger, talentierter, ehrgeiziger Neurologe zusammen mit seinem Mentor ein Buch: „Studien zur Hysterie“ von Sigmund Freud und Josef Breuer. Sie beschreiben anhand von fünf Fällen von Erkrankungen, die nachweislich keine körperlichen Ursachen aufwiesen, dass diese auf bestimmte traumatische Vorgänge im Leben der Erkrankten zurückgehen. Herr Breuer hatte die Größe, die Verantwortung für den zweiten Teil des Buches vollständig seinem jungen Kollegen zu überlassen. Und der warf eben mal ein Konzept einer Psychologie hin, das sich als bahnbrechende Entdeckung herausstellen sollte.
Bevor ich mich jetzt zu Orgien der Bewunderung hinreißen lasse, komme ich auf einen zentralen Gedanken dieser Psychologie4 zu sprechen, um den es mir in diesem Beitrag geht. Das ist die schlichte Tatsache, dass die Menschen nicht Herr in ihrem Oberstübchen sind. Gerade bei Zwangsstörungen tun Menschen Dinge, die sie selbst als widersinnig betrachten, auf die sie aber keinen Einfluss haben.
Dummheit oder Neurose?
Sie folgen in ihrem Handeln unbewussten Impulsen, und das gilt leider nicht nur für Menschen, die unter auffälligen Symptomen leiden, sondern auch für Menschen, die wir als „normal“ bezeichnen können. Wir schließen daraus: Wir Menschen haben die Fähigkeit zum rationalen Handeln, aber wir nutzen sie nicht sehr häufig.
Nietzsche beobachtete, dass viele Menschen völlig irrationalen Argumentationslinien folgen, aber ohne die Psychoanalyse oder einer anderen Form von psychologischer Forschung hatte er kein Mittel an der Hand, dieses Phänomen zu verstehen. Das brachte allerlei seltsamer Gedanken hervor, zum Beispiel, dass Massen an ungebildeten Menschen quasi ein Substrat bilden, auf dem ein paar wenige Genies wachsen, wie der Kürbis auf dem Kompost5. Zu seinem Repertoire gehörte es, Menschen mit unklaren Gedanken unter anderem als Hornvieh zu bezeichnen.
Wäre Nietzsche in der Lage gewesen, die Erkenntnisse der Psychoanalyse in seine Betrachtungen zu integrieren, ich denke, er wäre begeistert gewesen. Denn die Psychoanalyse gibt uns ein Modell an die Hand, mit dem wir die ungleiche Verteilung rationalen Denkens in der Bevölkerung verstehen können. Unser modernes Konzept des Bewusstseins basiert auf der Entdeckung des Unbewussten und auf Methoden, wie wir unser Denken und Fühlen aus dem Einfluss neurotischer Tendenzen herausschälen können.
Versteht mich nicht falsch: Das unlösbare Problem der Irrationalität verschiebt sich durch das Mittel der psychologischen Betrachtung einfach nur und wird zum unlösbaren Problem des mangelnden Bewusstseins. Das gros der Bevölkerung ist also nicht einfach dumm, es hat nur das Bewusstsein nicht entwickelt, das nötig wäre, um das Denken aus den Fängen unbewusster Tendenzen herauszuschälen. Aber in der Wirkung kommt es aufs Gleiche heraus.
Der Unterschied liegt in der Theorie: Nietzsche kann auf kein Modell zurückgreifen, mit dem man zeigen könnte, wie sich die durchschnittlichen Menschen zu mehr Rationalität entwickeln könnten. Heute wissen wir: Die Genialität ist jedem Menschen (bis auf wenige Ausnahmen) gleichermaßen gegeben. Sie liegt einfach nur begraben in neurotischen Tendenzen. Wie man sie im großen Stile ausgraben könnte, bleibt wie gesagt ein ungelöstes Rätsel. Aber es ist zumindest denkbar.
Soziale Bewegungen
Nietzsche hielt nicht viel vom Konzept der Gleichheit der Menschen in einem ethischen und juristischen Sinn, ebenso wenig wie vom kategorischen Imperativ, weil diese Verallgemeinerungen über die individuelle Entwicklung der Menschen bügeln und sie somit unterdrücken. Deshalb war er auch ein Gegner der sozialen Bewegungen, die zu seinen Lebzeiten begründet wurden.
Er legte damit exakt den Finger in die Wunde der marxistischen bzw. sozialistischen Bewegungen, die von der Emanzipation der Arbeiterschaft sprachen, ohne eine Idee davon zu haben, wie diese Selbstermächtigung praktisch erzielt werden könnte.6 Und weil die Anführer dieser Bewegungen bis heute keine Antwort auf diese Frage haben, weichen sie auf autoritäre Konzepte sozialistischer oder quasidemokratischer Staaten aus, die allesamt auf das Gegenteil der Emanzipation der Menschen hinauslaufen.7
Jede Form eines Idealbildes dessen, was ein Mensch sein kann, wäre in diesem Sinn abzulehnen, weil es der individuellen Entfaltung im Weg steht.
Angenommen wir befänden uns in einem gesellschaftlichen Setting, das die optimale Entwicklung der Individuen fördert: Wie weit sind dann die Konzepte der Emanzipation der Menschen bei Marx und des Willens zur Macht bei Nietzsche voneinander entfernt?8
Es steht ein Elefant im Raum
Ich habe mich bis jetzt mit aller Kraft um das Thema der ewigen Wiederkunft herumgedrückt, aber die Fragen von Gleichheit und Individualität führen unweigerlich in Richtung dieses Themas. Ich möchte das Thema aber in einem weiteren Beitrag behandeln, weil es den Rahmen dieses Beitrags sprengen würde. Daher bleibt hier eine Frage offen:
Die Menschheit erwirbt über Generationen hinweg Erkenntnis. Seit Menschen in der Lage sind, ihre Erkenntnisse aufzuschreiben, beziehen sich Menschen nachfolgender Generationen auf diese Erkenntnisse und erweitern so den Erkenntnisstand der Menschheit. Und doch sieht es so aus, als ob das alles nichts nützt. Bei aller gesammelten Erkenntnis entsteht nicht die Gesellschaft der Weisen und wird es wahrscheinlich nie tun. Denn jeder Mensch wird ohne Ahnung von all dieser Erkenntnis geboren und muss sich das Wissen erst „draufschaffen“. Und das tun halt die wenigsten.
Merkt Ihr es? Da zeichnet sich ein Kreislauf ab. Man könnte diesen Kreislauf als fatal bezeichnen, weil die Menschen immer wieder von vorne anfangen. Aber zu Ende gedacht, garantiert gerade dieser Kreislauf das Maximum an Freiheit. Wenn Ihr jetzt neugierig seid, dann finde ich das super.
____________
1 Mit meinem später erworbenen Wissen über psychische Störungen wurde mir rückblickend klar, dass ich mit dieser Therapie eine manisch-depressive Störung überwunden hatte – ohne je ein Medikament dagegen genommen zu haben.
2 Es gibt ein von einem Gericht beauftragtes Gutachten, in dem die Verhältnisse, in denen ich aufgewachsen bin, ungeschminkt, aber ziemlich treffend geschildert werden. Für Außenstehende war das ein ziemlich erschütterndes Dokument.
3 Ihr erinnert Euch: Diese Idealbilder sind so gar nicht Nietzsches Ding. Doch dazu kommen wir noch.
4 Es gibt zwei fast zeitgleiche Ansätze einer psychologischen Wissenschaft, von Janet und Freud. Im Grunde genommen war also schon der Gedanke, eine Psychologie als Wissenschaft zu etablieren, völlig neu. Grundlage dafür war – wie in jeder Wissenschaft – die Erfahrung der Wiederholbarkeit. Wer die grundlegenden Konzepte der Psychoanalyse aus erster Hand kennenlernen möchte, dem seien die „Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse“ von Sigmund Freud zu empfehlen. Das ist eine Niederschrift von Vorträgen, die Freud an der Uni für Studenten gehalten hat. Der Text ist leicht verständlich, ist aber ausführlich genug, um die Konzepte im Detail zu beschreiben.
5 Das ist kein Bild von Nietzsche, sondern basiert auf einem Bild von Thích Nhất Hạnh über die Entwicklung des Bewusstseins. Auch wenn es beim Kompostieren um negative Erfahrungen und nicht um andere Menschen ging, finde ich das Bild an dieser Stelle passend.
6 Ich finde es in diesem Kontext sehr interessant, dass das Konzept der Gleichheit ursprünglich aus der bürgerlichen Revolution stammt und im Grunde ein Mittel war, die Herauslösung der Arbeiter aus den feudalistischen Strukturen zu forcieren, um dieselben als „freie“ Menschen umso intensiver ausbeuten zu können. Und weil es heutzutage modern ist, Zitate aus dem Kontext zu reißen: Nein, ich bin kein Gegner der Gleichheit.
7 Ich erlaube mir hier, etwas ausführlicher aus der Arbeit von Stefan Junker, „Staat oder menschliche Emanzipation, Versuch der Konstruktion einer Marxschen Staatstheorie“ zu zitieren, der das Dilemma ziemlich auf den Punkt bringt. Er zitiert den Autoren Hal Draper:
Die Sozialdemokratie hat in typischer Weise von der ‚Sozialisierung‘ des Kapitalismus von oben geträumt. Ihr Prinzip war immer, zunehmende staatliche Eingriffe in die Gesellschaft und die Wirtschaft für an sich sozialistisch zu halten. Eine verhängnisvolle Ähnlichkeit verbindet sie mit der stalinistischen Vorstellung, dass etwas namens Sozialismus der Gesellschaft von oben nach unten aufgezwungen werden könne, und dass Verstaatlichung gleich Sozialismus sei. Die beiden haben ihre Wurzeln in der zweideutigen Geschichte der sozialistischen Idee.
Um dann fortzuführen:
Dieses autoritäre Verständnis […] hält sich genaugenommen noch heute. Marxisten haben zwar immer wieder von der Selbstbewegung der Arbeiterklasse gesprochen, aber wie Hal Draper hervorgehoben hat, waren sie gleichsam bemüht, diese Selbstaktivität durch die Tätigkeit der Partei, einer Sekte oder der Intellektuellen zu ersetzen.
Viele Konzepte, welche den neueren Sozialbewegungen ein theoretische Fundament geben wollten, lehnten und lehnen an Marx angelehnte Ansätze verbal ab, entwickeln stattdessen mehr oder minder diffuse Konzepte demokratischer Basis-Organisationen, die früher oder später auf autoritäre und hierarchische Strukturen zurückgreifen.
Dies kann exemplarisch am Beispiel der „Grünen“ in Deutschland oder Österreich gezeigt werden. Diese basisorientierten Ansätze verlieren in dem Maß ihre Bedeutung, wie sich diese Bewegungen und Organisationen mit den herrschenden Entscheidungsstrukturen inklusive der Interessenverflechtungen, Korruption und gewissen Eitelkeiten arrangieren.
Dagegen führt das Prinzip proletarischer Selbstemanzipation in breiten Teilen der Arbeiterbewegung bestenfalls noch ein Schattendasein, das sich widerwillig der Realität hierarchischer Strukturen beugt.
8 Hier streifen wir das Thema der „Gesellschaft von Philosophen“ bei den Griechen. Das funktioniert nur, wenn die Philosophen nicht den ganzen Tag für ihren Lebensunterhalt arbeiten müssen – das galt tatsächlich als verpönt und der Weisheit nicht zuträglich. Das findet sich im Konzept der Gesellschaft in Gene Roddenberrys Star Trek: Next Generation wieder, in der Menschen nur noch tun, was sie interessiert, weil sie nicht tun müssen, was für ihre Lebenserhaltung notwendig ist.
Die steigende Produktivität unserer gegenwärtigen Gesellschaft führt eher zum Gegenteil, weil mehr und mehr des Ertrags als Mehrwert abgeschöpft wird. Statt weniger wird mehr gearbeitet. Der Fortschritt dient auf diese Weise nicht den Menschen. Solange Innovation Menschen vom Ertrag der gesellschaftlichen Arbeit ausschließt, kann sich die Gesellschaft der Philosophen nicht entwickeln. Mit einem Satz: Der Kapitalismus steht der Entwicklung der Menschen zu „Übermenschen“ im Weg.
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