Was tun wir, wenn wir diskutieren?
Montag, 21.04.2025
In der letzten Zeit überschlagen sich die Ereignisse und ich komme mit dem Schreiben nicht mehr mit, um meine Gedanken zu allem, was passiert, ein wenig zu sortieren. Da haben wir 30% AfD in Deutschland und die Wiederwahl von Trump in den USA. Und wir haben diejenigen, die angeblich die Demokratie vor der AfD schützen wollen und im Zuge dessen die Demokratie abschaffen. Währenddessen wird in München gegen Demonstranten einer Umweltbewegung wegen der Bildung einer kriminellen Vereinigung ermittelt. Was ist los? Ist es gerade hip, als Geisterfahrer aufzutreten?
Es gibt also eine Menge Themen, die auf mich einprasseln und jedes für sich wäre ein paar Zeilen wert.
Worüber sich zu schreiben lohnte
Dazu kommen Gedanken über den Staat: Was bringt eher linke Positionen dazu, sich immer mehr staatliche Kontrolle zu wünschen und warum das in exaktem Gegensatz zu den Ideen von Karl Marx steht, der findet, dass ein sozialistischer Staat zu seiner eigenen Abschaffung beitragen sollte.
Und auf der anderen Seite stehen die Apologeten der gierigen Bastarde, die weniger staatliche Kontrolle fordern, aber nicht wegen der Meinungsfreiheit, oder um dem Mittelstand Luft zum Atmen zu verschaffen, sondern um mehr Dreck in die Luft pusten, oder die Menschen am unteren Rand der Gesellschaft besser ausbeuten zu können.
Ja, und dann haben wir den Siegeszug all derer, die den letzten Tropfen Geld aus dem Haushalt wringen und ein noch höheres „Sondervermögen“ unter denjenigen verteilen wollen, die sich mit der Kriegsgefahr, die sie selbst provoziert haben, eine goldene Nase verdienen.
Stoff genug, um jede Menge Gedanken zu formulieren, zu sortieren oder auch einfach mal Gedankenexperimente zu äußern, in einem fiktiven Diskurs mit meinen Lesern, um zu sehen, welche Argumente da so kommen.
Ich hatte neulich ein Gespräch mit einem sehr netten Ehepaar. In dem Gespräch nahm ich den Standpunkt desjenigen ein, der an der Fähigkeit der Menschen zweifelt, aus den gegenwärtigen Wirren in der Welt wieder heil heraus zu kommen. Die beiden Leute haben jede Menge guter Argumente vorgetragen, warum sie an die Menschheit glauben, und warum es erst so schlimm werden musste, damit es besser werden kann. Sie sehen die Menschen in unserem Land auf einem guten Weg.
Das ist es, warum ich es immer wieder für wert befinde, meine Gedanken in einem Blog zu äußern und dabei ab und an in eine Rolle zu schlüpfen von jemandem, dessen Standpunkt ich selbst fragwürdig finde – nur um zu sehen, wohin mich das führt, oder auch, um Argumente zu provozieren, die diese Standpunkte widerlegen.
Was tun wir hier gerade?
Es wird Zeit, dass wir mal innehalten und uns fragen, was wir eigentlich tun, wenn wir miteinander diskutieren.1
Was passiert, wenn wir auf diese Weise Argumente austauschen? Im Idealfall entsteht ein Diskurs, in dem wir unseren Horizont erweitern können. Jeder von uns gleicht die Argumente der anderen mit seinen Erfahrungen und seinem Wissen ab und versucht, daraus einen Standpunkt abzuleiten. Im Idealfall passen wir unsere Standpunkte an, ganz nach dem Motto: Der Kopf ist rund, damit das Denken die Richtung ändern kann.
Das passiert bei mir genau dann, wenn jemand ein aus meiner Sicht gutes Argument vorträgt. Oft merke ich das gar nicht direkt im Gespräch selbst, sondern erst hinterher, wenn ich das Gespräch Revue passieren lasse. Und jetzt bin ich beim zentralen Punkt dieses Beitrags angekommen. Was macht ein gutes Argument aus? Und wenn wir schon am Bewerten sind: Was zeichnet im Gegensatz dazu ein schlechtes Argument aus?
Schlechte Argumente
Da fällt mir immer ein Philosophiestammtisch ein, an dem ich eine Weile teilnahm. Ich wollte mich mit den anderen Teilnehmern über genau dieses Thema „gute und schlechte Argumente“ austauschen. Dies stieß auf wenig Gegenliebe in der Runde, eben wegen des Aspekts der Bewertung. Ich denke, dass die Teilnehmer eher so ein Bild vor Augen hatten, dass im Rahmen einer Diskussion Bewertungen geäußert werden: „Dein Argument ist schlecht, weil…“ und damit auch eine Bewertung der Person transportiert wird, die das Argument äußert.
Oberflächlich betrachtet, ist der Verzicht auf eine Bewertung ein Akt der Höflichkeit, also der Wahrung der Umgangsformen. Wir ersparen der anderen Person eine Kränkung. Auf der anderen Seite steht die Frage, ob wir damit nicht ein Minderwertigkeitsgefühl schützen. Eine selbstbewusste Person kann eine negative Bewertung eines Arguments locker verkraften und braucht auch nicht den Schutz durch irgendwelche Verhaltensnormen.2 Aber ich möchte diesen Faden meiner Gedanken hier loslassen, um mich ein wenig mehr der Qualität der Argumente widmen zu können.
Für mich gibt es kaum ein besseres Beispiel für schlechte Argumente, wie die beiden Hauptargumente, mit denen die Leave-Fraktion die Abstimmung über den Brexit gewann3. Eins der Argumente war: „wenn die Türkei der EU beitritt, kommen 70 Millionen Türken ins UK“. Haltet mal kurz inne und überlegt: Was ist das Erste, was Ihr tun würdet, wenn Ihr dieses Argument hört?
Genau: Ihr würdet nachsehen, wie viele Einwohner die Türkei eigentlich hat. Das waren zum Zeitpunkt des Brexit ca. 84 Mio. Es ist jetzt zumindest theoretisch denkbar, dass 70 Mio. davon ins UK kommen, aber die Wahrscheinlichkeit, dass das tatsächlich passiert, liegt so ziemlich bei Null. Selbst wenn ein erheblicher Teil der Bevölkerung sich tatsächlich auf den Weg in die anderen Länder der EU machen würde, würden die sich auf ganz Europa verteilen. Das Argument ist so schlecht, dass man am Geisteszustand desjenigen zweifeln müsste, der es äußert. Aber das ist nicht der Punkt.
Der Punkt ist: Die Leave-Kampagne hat gewusst, dass das ein schlechtes Argument ist. Sie haben darauf gesetzt, dass der Großteil der Bevölkerung diese Behauptung nicht hinterfragen würde. Und damit hatten sie Recht.
Die Verzehnfachung der Weltbevölkerung
Ähnliches finden wir bei den Befürwortern der Waffenlieferungen an die Ukraine, allen voran die Frau Strack-Zimmermann, deren Argumente geradezu senil klingen:
Putin ist ein Mörder, ein Killer, der hunderte von Millionen Menschen auf dem Gewissen hat.4
Das wäre die Größenordnung der gesamten heutigen Bevölkerung Europas. Jetzt brauchen wir Vergleichszahlen. Die Nazis haben etwa 17 Millionen Menschen ermordet. Der zweite Weltkrieg hat etwa 70 Millionen Opfer gekostet. Frau Strack-Zimmermann will uns also weismachen, dass diese Zahl um ein Vielfaches von Putin getoppt wurde.
Aber es geht weiter in der gleichen Gesprächsrunde:
Die Ukraine ernährt 70 Milliarden Menschen
Hier wird die Weltbevölkerung eben mal knapp verzehnfacht. Das ist kein Lapsus. Das geschieht bewusst und ist Propaganda. Oder um mit Dominic Cummings, Leiter der Leave-Kampagne zu sprechen:
Gebt mir eine möglichst große Zahl!
Man hat übrigens einen der Teilnehmer des Talks gefragt, warum er angesichts der offenkundigen Falschbehauptungen der Frau Strack-Zimmermann nicht eingegriffen hat. Er zog sich auf seine Höflichkeit zurück. Ich denke, dass die Höflichkeit in diesem Fall nicht angebracht war.
Die moralische Ebene
Also haben wir schon das erste Erkennungsmerkmal schlechter Argumente: Die Unvereinbarkeit mit den offensichtlichen Fakten. Aber es gibt noch mehr. Sehr häufig sehen wir das Abgleiten in moralische Äußerungen, die eine weitere Auseinandersetzung mit dem Thema ersticken. Da gibt es eine Menge Beispiele aus den letzten Jahren:
- Wer sich während der Corona-Pandemie nicht impfen lassen wollte, wurde als unsolidarisch gebrandmarkt. Eine Auseinandersetzung auf der sachlichen Ebene über die Beweggründe fand nicht statt, ebenso wenig, wie eine nüchterne Betrachtung des beschleunigten Zulassungsverfahrens möglich war, mit dem damals eine völlig neue Wirkstoffkategorie auf den Markt gepusht wurde – übrigens unter Ausschluss der Haftung durch den Hersteller. Mit dem Thema der mangelnden Systematik beim Erfassen der Nebenwirkungen könnte man ein ganzes Buch füllen.
- Durch die Bilder von Butscha wurde Wladimir Putin als geistesgestörter Diktator und Aggressor dargestellt, der unbedingt gestoppt werden muss. Dadurch wurde es unmöglich, sich öffentlich damit auseinanderzusetzen, was Russland mit dem Eintritt in diesen Krieg bezweckte. Wie Bilder in den Medien entstehen und welche moralische Macht sie ausüben, zeigt eine sehr schöne Dokumentation über die Bilder von Bergamo, die auf der Website des BR zu finden ist. Auf ähnliche Weise dienten auch die Bilder aus Butscha dem Anheizen der Stimmung5. Das hat nichts mit der Vermittlung von Informationen zu tun.
- In der Auseinandersetzung über die elektronische Patientenakte nutzte der Ethikrat ein besonders schlechtes Argument: Wir sollten uns schämen, dass wir nicht mit den Patientendaten forschen dürfen6. Der Ethikrat machte auch während der Corona-Pandemie von sich reden, indem schwache sachliche Argumente durch schwachsinnige moralische Argumente gestützt wurden.
Es lohnt sich also, einmal zu schauen, wieviel moralischer Impetus in einem durchschnittlichen Beitrag in den großen Medien zu finden ist. Wir können davon ausgehen, dass damit eine schwache sachliche Argumentation gestützt werden soll und mit ein wenig Übung können wir die moralischen Äußerungen nutzen, um diese schwachen Argumente aufzuspüren.
Kleiner Hinweis am Rande: Warum wird der Krieg in der Ukraine immer als Angriffskrieg bezeichnet? Es soll in jeder Erwähnung das Bild des armen Opfers Ukraine im gerechten Kampf gegen den Aggressor Russland zeigen. Das ist eine Methode zur Manipulation der Leserschaft, die nennt sich Framing. Die Aufgabe ist nun, herauszufinden, welche sachliche Auseinandersetzung durch dieses Framing vermieden wird.
Aber auch wir sind nicht frei von moralischen Äußerungen. Daher meine Aufforderung an den geneigten Leser: Reflektiere einmal darüber, wann und wo Du selbst in die moralische Ebene abgleitest.
Und noch ein Gedanke: Kann das weit verbreitete Unbehagen gegen eine Bewertung von Argumenten damit zu tun haben, dass die sachliche Bewertung mit einer moralischen Bewertung verwechselt wird?
Die Phrase
Ein Verwandter des moralischen Scheinarguments ist die Phrase. Phrasen sind Dinge, die wir irgendwann gelernt haben und unhinterfragt bei jeder passenden Gelegenheit von uns geben. Ein gutes Beispiel dafür ist der Ausspruch: „Die Freiheit des einzelnen hört da auf, wo die Freiheit des Anderen beginnt.“.
Ich kann die Intention des Spruchs erkennen und würdigen, aber das macht seine Anwendbarkeit als Argument nicht besser. Das Bild suggeriert, dass jedem eine Art „Freiheitsraum“ zusteht und Probleme entstehen, wenn sich diese Räume überlappen. Nehmen wir an, die Freiheitsräume von Alex und Mathilde überlappen sich. Damit ist ja nicht gesagt, wer von beiden seine Ausdehnung im Freiheitsraum zurücknehmen soll. Dazu braucht es Kriterien. Die gehen aus dem Spruch aber nicht hervor.7
Es gibt haufenweise solcher Phrasen, die als Argument verwendet werden, weil sie so scheinen, als seien sie allgemeine Gesetzmäßigkeiten. In Wirklichkeit, wenn man sie auf konkrete Lebenssituationen anwenden will, zeigt sich der Mangel ihrer Gültigkeit.
Systematisches Erkennen schlechter Argumente
Ich bin natürlich nicht der erste, der sich darüber Gedanken macht, was gute von schlechten Argumenten unterscheidet und durfte vor kurzem lernen, dass ich mich in bester Gesellschaft befinde. Schopenhauer hat nämlich ein Manuskript darüber geschrieben, mit welchen Methoden der Rhetorik man Recht bekommt, wenn man nicht Recht hat. Er nennt das Manuskript Eristische Dialektik.
Natürlich ist das nicht so gemeint, dass jetzt jeder die Methoden dieser Eristischen Dialektik zur Verbesserung seiner Rhetorik lernen sollte, sondern im Gegenteil: Schopenhauer hat es geschrieben, damit wir besser erkennen, wann wir es mit einem schlechten Argument zu tun haben. Da dieses Manuskript auch einige Methoden der Manipulation beschreibt, lege ich Euch das Manuskript sehr ans Herz, auch wenn es nur eine Sammlung an Notizen ist. Ich denke, die Entscheidung Schopenhauers, das Manuskript nicht zu veröffentlichen, hat damit zu tun, dass er zu Recht befürchtete, dass er den Leuten auch noch hilft, die von ihm beschriebenen Methoden der Rhetorik in der Praxis einzusetzen.
Unterm Strich bleibt stehen: wir können schlechte Argumente erkennen. Teile der Systematik, die wir dazu benötigen, kennen wir nun und es sieht so aus, als ob es sich lohnen könnte, unser Wissen über diese Systematik zu erweitern. Dabei ist alles hilfreich, was zum Thema Manipulation und Propaganda aufklärt.
Wir können nun sagen: Ein Argument ist potentiell ein gutes Argument, wenn es nicht mit Hilfe dieser Systematik durchs Raster fällt.
Alles eine Frage der Logik
Ich vermute, dass die wenigsten Menschen ihre Gespräche so führen, dass sie dabei bewusst die Systematik der Argumentation im Auge behalten. Ich im Übrigen auch nicht. Dennoch gibt es eine Art magischen Abgleich der Argumente mit eigenen Erfahrungswerten, mit dem Bauchgefühl, mit allem, was man gelernt und gelesen hat. Ob bewusst, oder unbewusst: Es gibt einen gemeinsamen Nenner, der aller Argumentation zugrunde liegt. Das haben schon die alten Griechen erkannt und sie haben daher die Gesetze der Logik formuliert.
Kant hat das später fortgesetzt. Ich weiß nicht viel über Kant, aber eins habe ich mitbekommen: Er spricht von einem Wissen a priori, also ein Wissen, das vor jeder Erfahrung existiert, das uns quasi in die Wiege gelegt wurde. Und zu diesem Wissen a priori zählt er die Fähigkeit zur Anwendung der Logik. Wir müssen die Logik nicht lernen, um sie anwenden zu können, sie ist einfach da.
Ich möchte mich mit der Logik nicht weiter aufhalten, es reicht mir für diesen Beitrag, das aus meiner Sicht wichtigste Gesetz der Logik aufzuführen:
Eine Aussage kann nicht gleichzeitig mit ihrem Gegenteil zutreffend sein
Die Aussage: „Die Durchschnittstemperatur steigt“ kann nicht mit der Aussage „Die Durchschnittstemperatur sinkt“ vereinbart werden.
Wir können zum Beispiel eine Aussage darüber treffen, wie viele Gigatonnen CO2 seit Beginn der Industrialisierung in die Atmosphäre geblasen wurden. Des Weiteren ist bereits Anfang des 20ten Jahrhunderts durch Experimente bewiesen worden, dass CO2 einen Treibhauseffekt verursacht. Wenn ich all diese Information zusammennehme: Wie wahrscheinlich erscheint es dann, dass der Klimawandel nicht menschengemacht ist?
Es gibt aber dennoch Wissenschaftler, die genau das behaupten. Dann gibt es wiederum Wissenschaftler, die sich mit deren Argumenten beschäftigen. Die zeigen dann, dass die Konzentration von CO2 in der Atmosphäre tatsächlich hoch genug ist, um einen Treibhauseffekt im gegenwärtigen Umfang zu verursachen.8
Das war nur das Vorspiel zu einem Argument, das in der letzten Zeit sehr häufig vorgetragen wird: Die Natur brauche doch CO2, daher sei es fatal, wenn wir das CO2 aus der Atmosphäre entfernen wollen.
Habt Ihr es gemerkt? Es hat gar niemand behauptet, dass alles CO2 aus der Atmosphäre entfernt werden soll (Schopenhauer lässt grüßen).9 Es soll das Ausmaß des durch menschliche Aktivitäten in der Atmosphäre befindlichen CO2 verringert werden. Gegenwärtig geht es sogar nur darum, die Erhöhung des Ausstoßes zu verringern. Das kann auf jeden Fall mal nicht schaden. Was wir aber auch durch die effektivste Klimapolitik nicht erreichen werden: Wir werden keine Probleme erzeugen, die aufgrund eines CO2-Mangels in der Atmosphäre entstehen.
Was ist in den zwei letzten Absätzen passiert? Ich habe die vorgetragenen Argumente auf Schlüssigkeit überprüft. Das tun aber auch alle Personen, die in der Diskussion als Kontrahenten auftreten. Es gibt einander widersprechende Aussagen. Und jeder beharrt darauf, dass seine Aussage richtig sei. Das führt dann oft zu Diskussionen über das „Pachten der Wahrheit“ und dergleichen Dinge mehr. Dabei ist die Sache viel einfacher. Wir müssen uns nicht mit dem komplizierten Konstrukt der „Wahrheit“ auseinandersetzen. Es reicht, sich klar zu machen, dass die gesammelten Erfahrungen und das gesammelte Wissen, gegen das ein Abgleich der Argumente stattfindet, bei keinen zwei Personen gleich ist.
Wir haben im Kern die Gesetze der Logik. Aber sich alleine darauf zurückzuziehen, wäre zu kurz gegriffen. Das mechanistische Weltbild krankt an der Idee, dass der Abgleich nicht gegen die persönliche Erfahrung, sondern gegen objektive Fakten erfolge. Aber das ist nicht der Fall.
Im Folgenden werden wir die Gesetze der Logik dafür nutzen, um zu verstehen, dass die Gesetze der Logik nicht alles sind, was ein Argument ausmacht.
Kontext
Nehmen wir die Aussage: „Wir haben zu wenige Lehrer“. Die steht der Aussage: „Wir haben zu viele Lehrer“ entgegen. Was gilt nun? Lehrermangel oder Lehrerschwemme?10
Zunächst mal brauchen wir ein Kriterium: Wie bestimmt man eigentlich das rechte Maß an Lehrern? Haben wir das ermittelt, können wir das mit der Anzahl der vorhandenen Lehrer (und der Lehramtsanwärter) vergleichen und wissen dann, welche der beiden Aussagen zutrifft (oder eben keine von beiden). Aber auch das reicht nicht. In Bayern mag es zu wenige Lehrer geben, in NRW zu viele, oder umgekehrt. In einem Land fehlen Deutschlehrer, im anderen fehlen Mathelehrer.
Wir können die Frage nach dem „richtigen Maß“ eigentlich nicht aus sich selbst heraus beantworten. Wir müssen den Kontext berücksichtigen, in dem eine Aussage getätigt wird. In der vorhin genannten Phrase, wo denn die Freiheit des Einzelnen ende, fehlt der Kontext, weshalb wir nicht beurteilen können, wer hier überhaupt Rücksicht üben muss.
Wenn vom Fachkräftemangel die Rede ist: Welche Art an Fachkräften wird eigentlich gesucht und welche stehen zur Verfügung? Wie viele Fachkräfte werden tatsächlich ernsthaft gesucht? Zum Beispiel haben BWLer das ideale Maß an Unterbesetzung für Kliniken berechnet. Die Klinikketten werden daher keine zusätzlichen Pflegekräfte einstellen. Sie werden so tun, als ob sie das vorhätten. Aber sie stellen niemanden ein, denn das würde die Dividende der Aktionäre senken.
Das ist Kontext, der bei der Bewertung von Argumenten berücksichtigt werden muss. Und da kommt die bittere Wahrheit für alle Wahrheitssucher:
Der Kontext erhöht die Komplexität eines Themas.
Und das ist eine besonders schlechte Nachricht für alle Personen, denen das Lesen eines Buches zu viel ist. Und schon gleich für diejenigen, deren Aufmerksamkeitsschwelle nur noch für die Shorts auf Youtube oder TikTok reicht.
Jeder hat eine Agenda
Zum Kontext einer Argumentation gehört auch die Information darüber, welche Agenda hinter den verschiedenen Argumenten steht.
Bleiben wir beim Beispiel des Klimawandels: Die Art der Wissenschaftler, die vor dem Klimawandel warnen, hat sich geändert. Früher waren das Außenseiter, oft Studenten, die das Thema Umwelt im Kontext der Kapitalismuskritik behandelten. Die hatten nicht viel zu verlieren. Heute haben wir es mit Leuten zu tun, die im Ernst E-Autos als Lösung des Problems sehen. Wir haben es mit Leuten zu tun, die das Wachstumsparadigma nicht antasten, die meinen, es gäbe Lösungen, die mit weiterem Wirtschaftswachstum vereinbar wären.
Dann habe ich es oft mit dem Argument zu tun, dass Deutschland nur 1,8% des weltweiten CO2-Ausstoßes produziere und man die Welt ja nicht retten könne, indem man die deutsche Wirtschaft ruiniert um diese 1,8% zu verringern. Das Argument stimmt nicht, weil die Zahl durch die Tatsache geschönt wird, dass ein Großteil der Waren, die bei uns verbraucht werden, im Ausland produziert wird. Das dabei erzeugte CO2 müsste eigentlich uns zugerechnet werden. Stattdessen hören wir eine Menge Kritik gegen China, das so viel CO2 produziere. Rechnet man mal nur das CO2 für den Eigenverbrauch der über 1 Mrd. Menschen, die in China leben, relativiert sich der CO2-Ausstoß von China doch ziemlich.
Die Argumentation von beiden Seiten der Wissenschaftler, die für oder gegen einen menschengemachten Klimawandel sprechen, schützt gleichermaßen das Wachstumsparadigma. Dabei ist der Kern des Problems die kapitalistische Produktionsweise. Wissenschaftler, die diesen Ansatz verfolgen, haben nach wie vor Probleme, in der wissenschaftlichen Welt anerkannt zu werden.
Der Wissenschaftsbetrieb als Kontext
Die Wissenschaft ist also nicht die neutrale, faktenbasierte Instanz unserer Gesellschaft, sondern sie wird von konkreten Personen betrieben, die jeweils ihren Hintergrund haben. Die wissenschaftliche Arbeit wird durch Faktoren beeinflusst, wie der Ruf von Wissenschaftlern, ihre Vernetzung und damit die Möglichkeit, zu publizieren.
Der „Konsens“ der Wissenschaft, dass knapp 100% der veröffentlichten wissenschaftlichen Beiträge für einen menschengemachten Klimawandel sprechen, steht vor dem Hintergrund, dass Wissenschaftler mit einer anderen Ansicht gar keine Möglichkeit haben, ihre Argumente in wissenschaftlichen Publikationen vorzutragen. Es entsteht kein echter Diskurs und das ist schlecht für die Glaubwürdigkeit der Argumentation pro menschengemachtem Klimawandel – die ich im Übrigen unterstütze.
Ein anderes Beispiel: Man hat ein simples wissenschaftliches Modell der exponentiellen Ausbreitung von Infektionen als Realität verkauft11 und damit das Vertrauen von großen Teilen der Bevölkerung verspielt. Kein Wunder, dass die nicht mehr glauben, was ihnen von Wissenschaftlern erzählt wird, vor allem wenn diese so nahe am Machtapparat stehen, wie es zum Beispiel bei Mitgliedern der Leopoldina oder des Ethikrats der Fall ist.
Das Bundesamt für Strahlenschutz war in den 80ern ein Bundesamt zur Verharmlosung von Strahlenverseuchung und die ernst zu nehmenden Wissenschaftler fanden sich gänzlich außerhalb der Bundesämter, Akademien und Regierungskommissionen.
Es gab in der Sponti-Kultur der 80er Jahre die Regel: Traue keinen Autoritäten. Das ist nur möglich, wenn Wissen außerhalb der etablierten Institutionen erworben und gepflegt wird, ohne Rücksicht auf Preisverleihungen und das gegenseitige Empfehlen und Schulterklopfen in unserem Wissenschaftsbetrieb.
Abgrenzung zur Argumentation ad hominem
Lasst uns einmal kurz zurücklehnen, und zusammenfassen, was wir bislang gehört haben. Zunächst haben wir die Gesetze der Logik, die wir im Kern einsetzen, um die Plausibilität von Argumenten einzuschätzen. Hilfreich ist es, die Regeln der Rhetorik zu kennen, um zu erkennen, wo die Rhetorik schwache Argumente stützt. Dann müssen wir uns um das Verständnis des Kontexts bemühen, vor dessen Hintergrund argumentiert wird.
Und am Ende stellten wir fest, dass zum Kontext auch äußere Faktoren gehören, die nicht zuletzt mit den gesellschaftlichen Machtstrukturen zu tun haben und der Rolle, die konkrete Personen in diesen Machtstrukturen einnehmen. Wir müssen also in Rechnung ziehen, ob die gesellschaftliche Position einer Person nicht deren Neigung zu bestimmten Argumentationslinien erklären könnte.
Hier müssen wir dann doch ziemlich aufpassen, nicht selbst in eine Argumentation ad hominem zu rutschen. Ein Argument eines Leopoldina-Mitglieds ist nicht deshalb falsch, weil die Person Mitglied der Leopoldina ist. Das wäre die genaue Umkehrung der Haltung, die Argumenten von Autoritäten mehr traut, als Argumenten von anderen Personen – und diese Umkehrung ist genauso falsch. Wenn wir aber feststellen, dass ein Argument einer „Autorität“ etwas fadenscheinig ist, dann lohnt es sich, zu prüfen, ob das nicht mit der Rolle der Person in der Gesellschaft zu tun haben könnte.
Der subjektive Faktor
Wir können uns dieselben Fragen natürlich selbst vorlegen: Schützen wir mit unseren Argumenten nicht unsere gesellschaftliche Position? Und sei es nur unsere Position in den Kreisen, in denen wir uns üblicherweise aufhalten? Und wenn wir schon damit anfangen, uns selbst zu hinterfragen, dann lohnt sich die Frage, mit welcher Haltung wir uns überhaupt in dieser Welt bewegen.
Sigmund Freud hat die drei „Grundbeleidigungen der Menschheit“ durch die Wissenschaft formuliert:
- Wir sind nicht der Mittelpunkt des Universums
- Wir stammen von Affen ab
- Wir sind nicht Herr im eigenen Oberstübchen
Mit letzterem meinte er, dass unbewusste Tendenzen uns zu Handlungen treiben, die alles andere als rational überdacht sind. Je näher wir betrachten, was wir den ganzen Tag so tun, umso größer erscheint uns der Anteil dessen, was wir aus unbewussten Motiven tun.
Wilhelm Reich hat sich intensiv mit Charakterzügen beschäftigt und dabei die Bemerkung fallen gelassen, dass die Charakterhaltung sich in der Haltung spiegelt, die wir in unserer Argumentation zeigen12. Wenn es Menschen gelingt, sich aus den Fesseln neurotischer Charakterhaltungen zu befreien, erreichen sie nachweislich eine offenere Haltung in allen Lebensfragen – inklusive der Argumentationen, die sie in Gesprächen nutzen.
Es lohnt sich also, sich selbst zu hinterfragen, welche Haltungen wir einnehmen, welche Ängste wir pflegen und wie das Ganze mit dem zusammenhängt, was wir denken. Und weil wir nicht alles wissen können und daher auf eine intuitive Herangehensweise angewiesen sind, mit der wir die Welt betrachten, ist es umso wichtiger, mit einer möglichst offenen Grundhaltung den Phänomenen der Welt gegenüberzutreten.
Fazit
Bevor ich also in einen länglichen Rant über sich gegenseitig auf die Schulter klopfende, preisverleihende und Publikationen zuschusternde Spezlwirtschaften im Wissenschaftsbetrieb verfalle, oder über den Lobbyismus schreibe, der allen Reichtum der Welt in den Taschen der Rüstungsindustrie und deren Investoren konzentrieren will, bevor ich also in den letztendgültigen Rant verfalle, der das Ende dieses Blogs anzeigt, weil dann alles gesagt ist, sollte ich kurz innehalten und mich fragen: Warum tue ich das? Und im Sinn der psychischen Tendenzen: Wozu?
______
1 Dafür gibt es den Begriff Metaposition oder auch Metaebene. Wir begeben uns auf die Metaebene und betrachten nicht unsere Argumente, sondern die Art und Weise, wie wir miteinander in Diskurs treten.
2 Hier sind wir bei der harten aber herzlichen Art der Diskussion, die früher in links orientierten Kreisen gang und gäbe war. Ich erinnere mich an einen Arbeitskreis, in dem ich ein paar heftige Kränkungen einstecken musste, bevor ich lernte, mich auf meine Vorträge besser vorzubereiten. So ein Arbeitskreis ist halt nicht nur ein Happening, wo alle nett zusammensitzen, sondern die Leute haben einen Anspruch darauf, dass sie an den Abenden des AK nicht ihre Zeit verschwenden.
3 Ob der Brexit gut oder schlecht fürs UK war, kann ich nicht beurteilen. Aber die Argumente, mit denen die Leave-Kampagne gewonnen hat, machen mich fassungslos. Die hätten eigentlich mit Pauken und Trompeten verlieren müssen, weil die Bevölkerung sich zurecht von den Argumenten hätte verarscht fühlen müssen. Das war aber nicht der Fall. Und das sagt etwas über den Zustand unserer Demokratie aus. Demokratie schützt man nicht durch das Verbot von „Desinformation“ oder durch das Vorkauen von Argumenten durch „Faktenfinder“, sondern, indem die Menschen in die Lage versetzt werden, Argumente selbst zu überprüfen. Indem Kinder an der Schule lernen, Argumente zu hinterfragen, lernen sie auch, aus intellektueller Auseinandersetzung ihr Selbstbewusstsein zu entwickeln.
4 Im gleichen Satz wiederholt sie die Behauptung, Russland hätte 700.000 Kinder aus der Ukraine auf russisches Territorium verschleppt. Das Argument stammt wohl vom Deutschlandfunk. Dort wird ein Post auf Telegram zitiert, der angeblich von einer Mitarbeiterin der russischen Regierung verfasst wurde. Überprüfen lässt sich das nicht. Ein Link auf das Zitat wurde nicht angegeben.
5 Oder, um mit Frau Strack-Zimmermann zu sprechen: Die Bundeswehr braucht ein Feindbild.
6 Das ist sachlich falsch. Forschung mit den Patientendaten ist erlaubt, aber halt nicht von jedem und nicht zu jedem Zweck. Genau diese sinnvolle Beschränkung will der Ethikrat abschaffen.
7 Ein Beispiel, das mir dazu einfällt, kam von Christoph Süß in der Sendung „Quer“ gegen Ende der Corona-Pandemie. Er beschreibt eine fiktive Situation, wo er im Theater sitzt und neben ihm nimmt ein Mensch Platz, der sich nicht hat impfen lassen. Der Sitznachbar beanspruche die Freiheit, sich nicht impfen zu lassen. Aber wie stehe es mit seiner Freiheit, sich nicht anstecken zu lassen? Und dann fällt die Phrase: „Die Freiheit des einzelnen endet dort, wo die Freiheit des Anderen beginnt“. Dass die Phrase aus meiner Sicht Unsinn ist, habe ich bereits einmal dargelegt. Wie die moralischen Argumente deckt die Phrase eine argumentative Schwäche.
Die Frage der Impfung zeigt das Problematik auf, dass die Befürworter eine eindeutige Aussage zu einem komplexen Thema treffen wollen („lasst Euch impfen“), weil sie an deren Richtigkeit glauben. Aber das Thema ist mit einer einfachen, eindeutigen Aussage nicht zu fassen. Da tritt dann die Phrase als Vereinfachung in die Diskussion ein.
8 Tatsächlich befinden sich noch mehr klimawirksame Gase in der Atmosphäre, die ebenfalls mit der Industrialisierung zu tun haben. Da wäre zum Beispiel Methan zu nennen.
9 Das ist eine der Methoden, die Schopenhauer in seinem Manuskript erwähnt: Man unterstellt dem Kontrahenten eine Aussage, die dieser gar nicht getätigt hat und verwirft damit die gesamte Argumentation des Kontrahenten.
10 Es gab in den 70ern einen Witz: Kommt ein Lehrer zum Schulanfang in eine fast leere Klasse. Er sagt zu den Schülern: „Ihr seid wohl der Pillenknick“. Da kommt die Antwort aus der Klasse: „Und Sie sind wohl die Lehrerschwemme!“
11 Auch ich bin in diese Falle getappt. Aber nach einiger Überlegung wurde mir klar, dass das Modell dann doch zu simpel ist, um einen seriösen Forecast der Infektionsausbreitung zu leisten. Die Aussicht, dass Millionen von Menschen in kürzester Zeit von SARS Cov 2 infiziert werden könnten, sorgte doch für einige Exzesse an Angst und irrationalem Verhalten in der Bevölkerung.
12 Anders formuliert: Die Charakterhaltung kann das beschränken, was wir denken und tun können.
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