Ist Roger Waters ein Antisemit?

Dienstag, 30.05.2023

Mirko Matytschak

Die gegenwärtig laufende Tournee von Roger Waters sorgt in Deutschland für Aufregung. Verschiedene Städte haben versucht, seinen Auftritt zu verhindern, sogar Gerichte wurden bemüht. Am Ende versucht sich die Staatsanwaltschaft mit einer Anklage. Der Vorwurf: Antisemitismus bzw. Volksverhetzung. Ist Roger Waters ein Antisemit?

Ich kann die Vorwürfe nicht nachvollziehen. Aber wenn jemand aus der Leserschaft einen konkreten Beweis für eine antisemitische Einstellung bei Roger Waters vorlegen kann, schickt mir bitte eine Nachricht.

Mein Wissen über die Auseinandersetzung beschränkt sich darauf, dass Waters wohl die BDS-Bewegung unterstützt, die sich für einen Boykott Israels und vor allem der Waren aus Siedlungen im Westjordanland einsetzt. Dann gab es da noch bei einem Konzert die Showeinlage mit einem Schwein, auf das ein Davidsstern gezeichnet war. Darüber wird noch zu sprechen sein.

Berliner Ermittlungsbehörden versuchen sich in einer Anklage wegen Volksverhetzung und beziehen sich dabei auf eine Bühnenshow Mitte Mai in Berlin, in der Waters in einem langen schwarzen Ledermantel auftrat, wie ihn die SS benutzt hat. Am Arm war eine Armbinde mit einem Symbol angebracht, das explizit kein Hakenkreuz war. Die Show geht auf die Figur Pink im Song „In the Flesh“ auf dem Pink-Floyd-Album „The Wall“ zurück. Die Story dazu könnt Ihr im Web leicht selbst finden.

Ich schätze, dass die Staatsanwaltschaft viel zu tun hätte, wenn sie jeden Fall verfolgen müsste, in dem auf einer Bühne schwarze Ledermäntel getragen werden. Sie dienen sehr häufig als Symbol für Totalitarismus und lassen meist auf eine eher kritische Haltung gegenüber totalitären Systemen schließen. Roger Waters betont, den Ledermantel in diesem Sinn eingesetzt zu haben.

Was genau daran Volksverhetzung sein soll, erschließt sich mir nicht. Aber vielleicht fehlt mir hier ein Detail, das mir eine andere Perspektive auf diese Langer-schwarzer-Mantel-Geschichte eröffnet. In diesem Fall bitte ich ebenfalls um Informationen, zum Beispiel über die Kommentarfunktion. Die Geschichte gibt für mich gegenwärtig nicht mehr an Gehalt her und man braucht nicht viel Phantasie, um vorauszusagen, dass die Ermittlungen gegen Waters zu nichts führen werden.

Kommen wir zu den Vorwürfen des Antisemitismus, also die Geschichten mit BDS und dem Schwein. Da muss ich leider etwas ausholen, und zwar in die Geschichte des Verhältnisses zwischen dem Staat Israel und den Palästinensern.

Ein Ultrakurz-Abriss der Geschichte

Es ist vielleicht nicht allen Menschen klar, dass die Staatsgründung Israels nicht in unbewohnten Gefilden stattgefunden hat, sondern in Palästina, das seinerzeit unter englischer Kolonialverwaltung stand. Das heißt: Es sind irgendwann englische Truppen dort aufgetaucht und haben die Gegend militärisch okkupiert. Nach dem 2. Weltkrieg fing England an, Stück für Stück seine Kolonien in die Unabhängigkeit zu entlassen.

Statt Palästina in die Unabhängigkeit zu entlassen, wurde auf dem Gebiet Palästinas der Staat Israel gegründet. Was für die Zionisten die Erfüllung eines alten Traums war, war für die Palästinenser, was sie bis heute „die Katastrophe“ nennen. Auch einige arabische Nachbarn waren ziemlich vor den Kopf gestoßen und sie begannen einen Krieg gegen Israel, den sie, wie wir wissen, verloren haben.

Nach ein paar Jahrzehnten der kriegerischen Auseinandersetzungen mit den Nachbarstaaten kehrte so etwas wie eine Normalisierung mit den Nachbarn wie Jordanien, Ägypten und dem Libanon ein. Das ist eine grobe Vereinfachung, aber ich möchte auf den Punkt kommen, und der ist das Verhältnis zwischen Palästina und Israel in der jüngeren Zeit.

Das Resultat der Auseinandersetzungen war unter anderem, dass die verbliebenen palästinensischen Gebiete unter der militärischen und staatlichen Kontrolle Israels lagen. Später begann eine Zeit des Terrors, in der die Palästinenser versuchten, die israelische Vorherrschaft abzuschütteln (Intifada). Das alles brachte Palästina aber nicht um einen Millimeter weiter.

Dann begann die Zeit der Verhandlungen, für die Yassir Arafat und Jitzchak Rabin 1994 den Friedensnobelpreis erhielten. Diese Verhandlungen führten zur Festlegung einer Lösung, die eigentlich immer schon auf der Hand lag: Die Zweistaaten-Lösung. Diese Lösung sah ein unabhängiges Palästina in den verbliebenen Gebieten außerhalb der Staatsgrenzen Israels von 1948 vor, in den zwei Gebieten Westjordanland und Gaza-Streifen.

Ganz deutlich bleibt festzuhalten, dass damals das Existenzrecht des Staates Israel von der palästinensischen Delegation anerkannt worden ist und dass das bis heute so geblieben ist.

Siedlungspolitik und Intifada

Nicht alle Palästinenser und schon mal gleich gar nicht alle Israelis waren mit dieser Entwicklung zufrieden. Die reaktionären Kräfte gewannen in Israel die Oberhand, Rabin wurde 1995 von einem religiösen Fanatiker umgebracht, 1996 kam Benjamin Netanjahu als Fürsprecher derjenigen an die Macht, die sich durch Rabins Friedensbemühungen verraten fühlten. Damit fielen die letzten Dämme gegen etwas, das man mit Recht und Fug als Vertreibungspolitik1 beschreiben kann.

Der Kernpunkt dieser Politik ist der Bau von israelischen Siedlungen auf dem Gebiet des Westjordanlands. Wenn man sich heute eine Landkarte des Westjordanlands ansieht, dann sieht das aus, wie ein Schweizer Käse. Stellt Euch statt der Löcher Siedlungen vor. Diese Siedlungen sind militärisch befestigt und durch Straßen verbunden, die eingezäunt sind und die von den Palästinensern nicht benutzt werden dürfen. Das führt an manchen Orten dazu, dass Palästinenser kilometerweise Umwege fahren müssen, um auf die andere Seite von solch einer Straße zu kommen.

Kurz erwähnt soll noch der Bau einer Sperranlage werden, die zum Großteil auf dem Gebiet des Westjordanlandes errichtet worden ist und an geeigneten Stellen einfach mal eine Ausbeulung in palästinensisches Gebiet vornimmt. Zum Beispiel dort, wo es Wasserquellen gibt, wodurch die Quellen von der israelischen Seite genutzt werden können. Diese „Beulen“ dehnen sich bis zu 20km in das Gebiet des Westjordanlands aus.

Die Siedlungen sind ein ständiger Quell an Unfrieden in der Region und blockieren seit Jahrzehnten jeglichen Fortschritt in den Beziehungen zwischen Israel und Palästina. Die Palästinenser ihrerseits begannen nach dem Scheitern des Friedensprozesses mit der zweiten Intifada (deutsch: Abschüttelung). Das Mittel des Kampfes wurden Selbstmordattentate. Es gibt aus dieser Zeit ein Buch eines Mannes, der ein Selbstmordattentat verüben wollte. Es kam aber nicht dazu, und er beschrieb danach in dem Buch, was ihn zu dieser Entscheidung getrieben hat. Das Buch öffnet die Augen für Verhältnisse unter einem Regime, das mit brachialer Gewalt über Palästina herrscht.

Wann immer es einen Anschlag oder einen sonstigen Akt des Widerstands durch Palästinenser gab, reagierte Israel mit einer Vergeltung. Es wurden wahllos Häuser zerstört, Gegenden bombardiert, ganze Familienclans bestraft, wenn es in der Familie einmal einen Attentäter gab. Bulldozer räumten die Häuser der Familien weg, bzw. das, was die israelischen Truppen für die Häuser der Familien hielten.

Diese Eskalation der Vergeltung sorgte dafür, dass, wer bislang noch nicht daran gedacht hatte, ein Attentäter zu werden, nun – da ihm das Haus, die Wohnung, die Werkstatt genommen waren – kaum einen anderen Weg sah, als ebenfalls in den bewaffneten Widerstand zu gehen.

Blockierung des wirtschaftlichen Lebens

Dazu kommt noch etwas. Israelische Truppen kontrollieren willkürlich an wechselnden Punkten im Westjordanland die Menschen, die sich dort bewegen. Das läuft so, dass ein Bulldozer einen Haufen Kies auf die Straße schüttet, sodass keine Fahrzeuge die Straße passieren können. Davor stellen sich die Truppen auf und kontrollieren alle, die die Sperre passieren wollen. Das sind hier keine Märchen aus irgendeiner politischen Propaganda, sondern Erzählungen eines Bekannten, der sich vor Ort ein Bild von den Verhältnissen gemacht hat.

Das Umkurven der Siedlungen, die Kontrollpunkte, all das macht die Bewegung im Land mit dem eigenen Fahrzeug praktisch unmöglich. Man nimmt daher ein Taxi bis zum nächsten Kieshaufen, geht zu Fuß durch die Kontrolle und fährt auf der anderen Seite mit einem Taxi weiter. Der Bekannte erzählt, dass sie für eine Strecke von 42 Kilometern 7 Stunden gebraucht haben. Ich kann nicht beurteilen, ob das ein schlechter Tag oder Normalität war.

Auf jeden Fall sieht man schon, dass der Kauf eines eigenen Fahrzeugs nur bedingt sinnvoll ist. Wahrscheinlich nur dann, wenn es als Taxi eingesetzt wird. Stellt Euch vor, wie es sein muss, innerhalb des Landes Waren zu transportieren. Es ist eine Katastrophe. Wie können Menschen nur in solchen Verhältnissen leben?

Diese Frage lässt sich beantworten: Seit 1948 gibt es die großen Flüchtlingslager in Jordanien, Syrien und dem Libanon, in denen Palästinenser untergebracht wurden. Die Gastgeberstaaten haben kein gesteigertes Interesse, die Palästinenser zu integrieren. So haben die Palästinenser nur zwei Alternativen: Im Westjordanland von Israel sekkiert zu werden oder das Leben in einem Flüchtlingscamp zu verbringen.

Israel ist ebenfalls betroffen

Die Situation ist nicht nur für die Palästinenser schwierig. In Israel leben bestimmte Regionen in permanenter Angst vor Raketenbeschuss. Ein Anschlag auf Passanten kann jederzeit überall passieren. Da mittlerweile gezielt nach den Sprenggürteln gefahndet wird, geschehen heutzutage die Anschläge mit Messern. Ein Palästinenser greift Passanten mit einem Messer an und verursacht so viel Schaden, wie er kann, bis ihn Polizisten bzw. Soldaten erschießen.

Dazu kommen die allgegenwärtigen Sicherheitsmaßnahmen und Kontrollen, die alle Bürger nerven.

Ich gehe an dieser Stelle nicht weiter auf die Situation in Israel ein, nicht, weil es unwichtig wäre, sondern weil der Informationsstand darüber im Allgemeinen sehr gut ist. Außerdem kommt die Situation aus meiner Sicht auf den folgenden Punkt heraus: Vor die Wahl gestellt, ein paar Tage in Tel Aviv oder an einem beliebigen Ort in Westjordanland zu verbringen, würde ich Tel Aviv vorziehen, auch wenn das einer der Orte ist, die durchaus von einer Rakete getroffen werden können. Die Wahrscheinlichkeit, durch einen Angriff zu Schaden zu kommen, halte ich in Tel Aviv für geringer, als im Westjordanland.

Ungleichheit

Die Situation ist also für beide Seiten unbefriedigend. Es fragt sich daher, warum es nicht auf beiden Seiten politische Kräfte gibt, die diesen ewigen Kampf beenden wollen. Da stellt sich heraus, dass das der Fall ist. Es gibt auf beiden Seiten Gruppierungen, die für einen Frieden eintreten und es gibt gegenseitige Kontakte. Der Kern der Forderung dieser Gruppen ist die Realisierung der Zwei-Staaten-Lösung.

Gibt es in Israel tatsächlich Menschen, die einen Stopp des Siedlungsbaus und gar einen Rückbau befürworten? Solche Menschen gibt es, aber sie stellen eben nicht die Mehrheit im Land:

Die Mehrheit im Land wählt so, dass die Politik der Gnadenlosigkeit gegenüber Palästina weitergeführt wird.

So können wir festhalten: In der Region gibt es einen Staat, der das Gewaltmonopol ausübt, und das ist Israel. Und es gibt eine israelische Bevölkerung, die den Schutz dieses Staates genießt. Darüber hinaus gibt es die Palästinenser, die sich zwar der Gewalt beugen müssen, aber nicht die Möglichkeit haben, sich wirtschaftlich zu entwickeln. Die Besatzung und der „Schutz“ der Siedlungen machen das faktisch unmöglich. Infrastruktur, die zum Teil sogar von der EU finanziert worden ist, wird durch Bombenangriffe wieder zerstört.

Und so haben wir zwei Gruppen von Menschen in einer Region, deren realistisch erreichbaren Lebensentwürfe extrem unterschiedlich ausfallen. Eine gewisse Ähnlichkeit zu den Verhältnissen der Apartheid in Südafrika lässt sich also nicht abstreiten.

Und das ruft Menschen auf den Plan, die das damalige Konzept gegen die Apartheid-Politik in Südafrika auch gegen die israelische Politik gegenüber den Palästinensern anwenden wollen. Das ist der Boykott von Waren aus Israel und im speziellen aus den Siedlungen im Westjordanland. Die Bewegung nennt sich BDS (Boycotts, Divestment, Sanctions).

Wachsende Kritik an Israel

Das Problem des Siedlungsbaus wurde ab Mitte der 90er Jahre im Westen mehr und mehr wahrgenommen. Das Thema tauchte in den großen Medien auf und auch der eine oder andere westliche Politiker äußerte bereits Kritik. Die Stimmung begann sich Schritt um Schritt gegen Israel zu wenden.

Interessanterweise führte das nicht zu einem Einlenken der Politik Israels, wo mittlerweile seit Jahrzehnten Benjamin Netanjahu das Zepter schwingt. Die Tendenz geht eher in Richtung einer radikal nationalistischen Politik, die ein Ende der Probleme nicht erhoffen lässt. Ganz im Gegenteil: Musste sich Netanjahu anfangs in einer Koalition mit der Arbeiterpartei herumschlagen, hat er heute Koalitionspartner rechts seiner eigenen Partei. Eine extrem nationalistische Agenda ist die Folge. Nationalistisch heißt hier: Alles für uns und nichts für die Palästinenser.

Statt also die Politik aufgrund der wachsenden internationalen Kritik zu korrigieren, kam man auf eine andere Idee: Die internationale Kritik zum Verstummen zu bringen. Statt auf diplomatischem Weg über das Außenministerium, über kulturelle Organisationen etc. auf die öffentliche Meinung in anderen Staaten einzuwirken, schuf man ein neues Ministerium, das Ministerium für strategische Angelegenheiten. Ich werde hier nicht weiter auf die Geschichte dieser 2006 gegründeten und später umgewidmeten Organisation eingehen, das kann ich der israelischen Zeitung Haaretz überlassen. Der Artikel ist sehr lesenswert.

Ein Ministerium gegen Kritik

Aber es gibt noch einen weiteren Artikel über dieses Ministerium, über den ich vor einiger Zeit gestolpert bin. Leider finde ich diesen Artikel nicht mehr. Der Artikel ist ein Interview mit einer leitenden Person, wenn nicht gar des leitenden Ministers, der sich damit brüstet, wie das Ministerium arbeitet, und damit die eigentlich im Geheimen ablaufenden Prozesses des Ministeriums – bewusst oder unbewusst – offenlegt. Wenn Ihr wisst, wo ich diesen Artikel finden kann, schickt mir bitte den Link, dann werde ich diesen Post ergänzen.

Im Grunde handelt das Ministerium ähnlich wie ein Geheimdienst. Die Mitarbeiter analysieren Kampagnen gegen die Politik Israels, stellen fest, wie sie organisiert sind, wer die zentralen Personen sind und versuchen dann gegenzusteuern. Das könnt Ihr alles dem genannten Artikel in Haaretz entnehmen.

In dem Interview, dessen Quelle mir verloren gegangen ist, geht es noch etwas weiter. Mitarbeiter des Ministeriums scannen das gesamte Internet nach Israel-kritischen Veranstaltungen, vor allem von der BDS-Kampagne. Danach wird über ein weit verzweigtes Netzwerk an Kontakten weltweit versucht, diese Veranstaltung als antisemitisch zu diskreditieren und ein Verbot zu erwirken oder zumindest eine ablehnende öffentliche Meinung zu der Veranstaltung zu erzeugen.

Verwechslung als Konzept

Der Kern dieser Aktivitäten liegt im Ausnutzen einer Verwechslung. Die Verwechslung ist die zwischen der jüdischen Religion und dem Staat Israel. Antisemitismus ist eine Haltung der Ablehnung gegenüber Menschen, die der jüdischen Religion zugehören.

Das erste Problem, das ich in dieser Verwechslung sehe, ist, dass viele Gegner der Politik Israels (vor allem aus der arabischen Welt und dem Iran) Antisemiten sind. Und das zweite Problem, das ich sehe, ist, dass die israelischen Regierungen diese Karte seit Jahrzehnten spielen:

Wer Israel kritisiert, ist Antisemit.

Das ist Unsinn, aber es funktioniert. Weltweit. Es gab – wie erwähnt – eine kurze Zeit der Kritik an der israelischen Siedlungs- und Vertreibungspolitik. Diese Zeit kann getrost als beendet betrachtet werden. Und zwar aufgrund internationaler Kampagnen, welche die Kritiker der israelischen Politik als Antisemiten darstellen. Wenn Ihr sehen wollt, wie so eine Kampagne funktioniert, empfehle ich als Lektüre diese englischsprachige Broschüre. Das ist ein Musterbeispiel der Arbeit des besagten Ministeriums. Ihr könnt sehen, welche Früchte diese Arbeit trägt: In praktisch sämtlichen Regierungen der westlichen Welt wird BDS als terroristische oder antisemitische Organisation betrachtet. Die Broschüre zitiert entsprechende Aussagen westlicher Politiker.

Ich möchte an dieser Stelle nicht weiter auf dieses Ministerium eingehen. Schaut Euch die Quellen an.

Der Staat der Juden

Um die Verwirrung komplett zu machen, versteht sich Israel als Staat der Juden.

In den Richtlinien der 31. israelischen Regierung heißt es 2006 (unter Punkt 2):

Die Regierung strebt danach, die dauerhaften Grenzen Israels als jüdischer Staat mit einer jüdischen Bevölkerungsmehrheit ... festzulegen.

Das ist sehr interessant, weil das Staatsgebiet Israel und die von Israel militärisch kontrollierten Regionen die Geburtsstätte dreier Weltreligionen sind. Die Bevölkerung Israels besteht nicht nur aus Juden. Dort gibt es einige Christen und Moslems. Dass dieser Staat aufgrund der zionistischen Idee sich anfangs als jüdisch verstand, könnte man noch einigermaßen nachvollziehen. Aber im Sinn eines dauerhaften Friedens aller dort lebenden Menschen wäre es eine Überlegung wert, auf diese Definition zu verzichten, zugunsten eines Staatswesens, das alle Religionen toleriert und schützt.

Welchen Zweck könnte das Beharren auf den jüdischen Staat nach dem Scheitern der Friedensverhandlungen und der Machtübernahme durch die politischen Hardliner unter Benjamin Netanjahu haben, wenn nicht die Zementierung der Argumentationslinie:

Kritik an der Israelischen Politik = Kritik an Israel = Kritik an den Juden = Antisemitismus

Ist das Antisemitismus?

Kommen wir zurück zu Roger Waters. In der oben erwähnten Broschüre findet Ihr einen Artikel über Roger Waters, der so richtig den Dreckkübel über ihn auskippt. Diese Haltung wird in den deutschen Medien unhinterfragt übernommen.

Soweit ich es sehen kann, gibt es gegen Waters nur die anfangs dieses Beitrags genannten Indizien. Wer weitere kennt, verwende bitte die Kommentarfunktion. Ich meine das ernst. Ich möchte wissen, ob ich da etwas verpasst habe und bin bereit, aufgrund neuer Fakten meine Meinung zu revidieren.

Bis ich weitere Indizien habe, vertrete ich die Meinung, dass Waters kein Antisemit ist. Ich kann ausschließlich Hinweise auf das Gegenteil sehen: Er ist ein Gegner von Rassismus und Totalitarismus, aber eben auch ein Gegner der israelischen Politik gegen Palästina. Und er findet, dass ein internationaler Boykott Israel dazu bringen könnte, in dieser Angelegenheit einzulenken. Diese Meinung muss man nicht teilen, aber sie ist von der Meinungsfreiheit gedeckt und hat mit Antisemitismus nichts zu tun.

Was das Schwein mit Davidsstern2 anbetrifft: Betrachten das mal vor dem Hintergrund der bewusst gesteuerten Verwechslung Israels und des Judentums. Dann können wir das Schwein als Kunstobjekt sehen, das ausdrückt, dass der Staat Israel seine Schweinereien gegenüber den Palästinensern im Namen des Judentums ausführt und sich damit geschickt der Kritik entzieht, weil die Kritiker Gefahr laufen, als Antisemiten beschimpft zu werden.

 

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1 Diesen Begriff hat u.a. Moshe Zuckermann geprägt. Ich lernte ihn bei einem seiner Vorträge kennen und stütze meine Sicht auf die Politik Israels gegen die Palästinenser u.a. auf seine Ausführungen.

2 Auf dem Schwein sind nicht nur der Davidsstern, sondern verschiedene Symbole zu finden, die mit Macht, Geld und Militarismus assoziiert werden können.

Kommentare

2 Kommentare zu diesem Beitrag

Wonderful · 30.05.2023 · Direkter Link

Dein Artikel ist wieder richtig klasse! :-)

Hier habe ich noch etwas gefunden auf youtube:
Eine junge Frau besuchte ein Konzert von Roger Waters am 09.05. und nimmt Stellung zu dessen Diffamierung:

https://www.youtube.com/watch?v=zvHr_mhe68E

Außerdem fand ich eine Rede von Roger Waters, die er vor dem UN-Sicherheitsrat zum Ukraine-Krieg gehalten hat:

https://www.youtube.com/watch?v=pMl7T4aIB1k

Und hier noch ein paar Eindrücke von einem Konzertgast, der einen Ausschnitt des Konzerts in Hamburg online gestellt hat:

https://www.youtube.com/watch?v=0eddlAa99Cs

Mirko · 30.05.2023 · Direkter Link

Danke für die Links. Die Rede von Roger Waters ist als Video mit der verlesenen Übersetzung nicht so mein Fall. Hier ist der transkribierte Text für diejenigen unter Euch, die wie ich zu ungeduldig sind, um das Video ganz anzusehen.

Sehr schön finde ich das letzte Video. Das zeigt sehr gut die verschiedenen Facetten der Haltung, mit der Roger Waters dem Wahnsinn dieser Welt gegenübersteht. Ich kann nichts verwerfliches daran finden. Dass Künstler auf ihre spezielle Weise versuchen, mit den Phänomenen dieser Welt umzugehen, ist einer der tröstlichen Aspekte in dieser Zeit.

Möglicherweise kocht das Thema Waters gegenwärtig so hoch, weil er zu denjenigen gehört, die dem Bellizismus in Sachen Ukraine nichts abgewinnen können.