Die Russen sind nun vogelfrei

Samstag, 05.03.2022

Mirko Matytschak

Ich habe gestern eine längliche Diskussion mit Freunden geführt, über die Invasion Russlands in der Ukraine. Ich hatte nach der Diskussion das Bedürfnis, einige Standpunkte schriftlich zu fixieren, weil sie dabei vielleicht klarer herauskommen. Im Folgenden der Brief ungekürzt.

Hallo Hans-Dieter* und Monika*,

mir hängen noch einige Szenen unserer gestrigen Diskussion nach und ich hoffe, ich kann meine Aussagen schriftlich etwas präzisieren.

Zunächst mal habe ich den Eindruck, dass ich nicht ausreichend deutlich gemacht habe, dass ich den Krieg verurteile. Ich habe die Entwicklung in der Ukraine seit Jahren interessiert verfolgt und war von diesem Kriegsausbruch vielleicht nicht ganz so überrascht wie andere Leute. Es mag dabei der Eindruck eines unbeteiligten Achselzuckens entstanden sein. Dies ist jedoch nicht der Fall.

Die Vorstellung, dass Menschen durch Kriegshandlungen vertrieben, Häuser zerstört, Existenzen vernichtet werden und am Schluss alles in einer Militärjunta endet, bereitet mir körperliche Schmerzen.

Wer betreibt hier Propaganda?

Ich versuche, das Geschehen von einem äußeren Standpunkt zu betrachten. Und da fällt mir auf, dass beide Seiten Kriegspropaganda betreiben, und zwar nicht erst seit Kurzem, sondern seit Jahren.

Wir sind das von Moskau gewohnt, aber wenn wir wollen, dass sich jemals etwas an diesen Gräben zwischen Russland und der westlichen Welt ändert, glaube ich, müssen wir aufhören, Feindbilder zu züchten und statt dessen mehr auf nüchterne Analysen und weniger auf gutturale Stimmung zu setzen. Daher zeige ich eher auf unsere Kriegspropaganda, als auf die aus Moskau.

Wir werden nicht weniger wehrhaft gegenüber Russland, wenn wir Lügen (wie im Fall von Bild) oder Halbwahrheiten verbreiten, nur um Stimmung gegen Russland zu machen. Die russische Operation kommt nicht so gut voran, wie erhofft, die Russen setzen unerfahrene Kinder im Krieg ein, die Zivilisten sind ihnen egal, etc., also alles, was die Russen als unmenschlich qualifiziert, und ihren Angriff so darstellt, als hätten die Ukrainer eine realistische Chance zur Gegenwehr – während die mutigen Ukrainer als David gegen Goliath durchhalten, und Panzer angeblich mit bloßen Händen aufhalten, wenn nicht mit den Waffen, die wir ja jetzt liefern.

Dann habe ich versucht, eine Quelle für die Behauptung zu finden, dass jemand für 15 Jahre ins Gefängnis wandert, wenn er den Angriff auf die Ukraine als Krieg bezeichnet. Das mir nicht gelungen. Wenn Ihr eine Quelle habt, wäre ich interessiert daran. Alles, was ich gefunden habe, ist das hier.

Das erinnert mich an eine Glosse, die auf „Spezialoperation und Frieden“ von Leo Tolstoi anspielt… ;-) Mehr muss man dazu eigentlich nicht sagen. Angaben über Strafen bei Zuwiderhandlung kann ich in dem Artikel nicht finden.

Russe? Gefeuert!

Dann hatten wir die Diskussion um Netrebko. In derselben Glosse wurde beschrieben, was sich Netrebko so zuschulden hat kommen lassen. Zitat aus besagter Glosse:

Vorher hat sie noch fix erklärt, dass es ganz böse ist, "irgendeine öffentliche Person" - sie meinte Gergijew - "zu zwingen, ihre politischen Ansichten öffentlich zu machen und ihr Vaterland zu beschimpfen". Aus "Das wird man doch noch sagen dürfen" wird nun "Das wird man doch nicht mehr sagen müssen". Sich selbst erklärte Netrebko zur "unpolitischen Person". Deshalb hat sie auch vergangenes Jahr ihren 50. Geburtstag ganz unpolitisch im Kreml gefeiert und vor ein paar Jahren an der Seite eines Donezker Separatistenführers die "neurussische" Fahne gewedelt - ganz unpolitisch, versteht sich.

Im Sinn der Außenwirkung der Oper könnte ich mir jetzt vorstellen, dass man ihr aufgrund der Separatisten-Aktion vor ein paar Jahren eine Abmahnung geschickt und nun die Reißleine gezogen hat. Dann könnte man die Annullierung ihres Engagements noch vertreten. Aber das ist es nicht, was passiert ist. Passiert ist folgendes:

Man hat, wohlwissend um ihre politischen Ansichten, die Reputation der Münchner Staatsoper mit ihrem berühmten Namen gepimpt, und will nun die Konsequenzen nicht tragen. Gestern nützlich, heute nicht zu gebrauchen. Man hat sie kurzerhand gefeuert, weil ihre Distanzierung zu schmal ausgefallen ist. (Wenn ich das richtig verstehe, hat sie ein Engagement im Sinn einer Freiberuflerin, während Gergijew wohl angestellt war.) Diese Entlassungen haben eine fatale Wirkung auf die Stimmung in der Bevölkerung.

Für die Bevölkerung entsteht ein Bild, dass jeder, der aus Russland stammt und nicht bis drei eine Distanzierung geäußert hat, in diesem Land vogelfrei ist, sprich: den Job verliert. Und dieses Bild erzeugt eine Stimmung, über die folgendermaßen berichtet wird:

Ihre in Deutschland hergestellten Produkte werden boykottiert und aus dem Sortiment der Läden genommen. Es gibt Bilder von Geschäften, die mit Graffiti beschmiert wurden, Kinder sollen in der Schule angespuckt worden sein, weil sie "zum Feind" gehören würden. Die russisch-deutsche TV-Moderatorin Palina Rojinski äußert sich auf Instagram. Auch für sie ist der Feind nicht die russische Bevölkerung, sondern allein das Putin-Regime.

Ist es wirklich gerechtfertigt, dass Oberbürgermeister vorangehen und nicht linientreue russischstämmige Mitarbeiter entlassen? Wenn dieser Damm gebrochen ist, wie weit ist es noch bis zu Gefängnisstrafen für die „Verbreitung von Unwahrheiten“?

Ist die Nähe zu Putin oder zur russischen Politik nun Privatmeinung, oder nicht?

Und bei dieser Frage fiel im gestrigen Gespräch der Vergleich zwischen Putin und Hitler. Sinngemäß: „Die Verleugnung der Verbrechen Hitlers ist auch keine Privatmeinung, die jeder äußern darf“. Das ist eigentlich der Teil des Gesprächs, der mir am meisten im Magen liegen geblieben ist.

Dieser Vergleich relativiert die Verbrechen der Nazis, und zwar in Richtung der Verharmlosung. Der Einzige, bei dem der Vergleich zu Hitler statthaft ist, ist Stalin. Beide eint, dass sie mit Hilfe ihres Regimes und ihres Einflusses auf Medien eine Stimmung erzeugt haben, in der ein groß organisierter Völkermord durch die Bevölkerung möglich war. Hitlers Judenverfolgung ist gut bekannt und Stalins inszenierte Hungersnot 1932/33 im Rahmen der Zwangskollektivierung hat ebenfalls viele Millionen Menschen getötet.

Wie kommen wir hier wieder raus?

Ich stellte gestern noch die Frage, wie wir in Europa jemals wieder in einen Zustand der Entspannung kommen können. Oder wollen wir den Rest der Zeit, die der Menschheit auf diesem Planeten noch bleibt, im Spannungsfeld atomarer Abschreckung verbringen? Wo fangen wir an? Einen ähnlichen Gedanken hatte wohl die Ehefrau von Gerhard Schröder. Aus Angst vor den Folgen ihrer Äußerungen hat sie den Post jedoch wieder gelöscht:

"Viele Menschen haben sich, wie Sie, bei mir persönlich gemeldet, ob mein Mann nicht mit Herrn Putin über den Krieg in der Ukraine reden könnte. Der Krieg und das damit verbundene Leid für die Menschen in der Ukraine muss schnellstmöglich beendet werden. Das ist eindeutig die Verantwortung der russischen Regierung. Aber mit Blick auf die Zukunft gilt, dass die verbliebenen politischen, wirtschaftlichen und zivilgesellschaftlichen Verbindungen, die zwischen Deutschland und Russland bestehen, nicht gekappt werden. Denn diese sind - trotz der gegenwärtig dramatischen Lage - die Basis für eine Hoffnung, die wir alle haben: dass ein Dialog über Frieden und Sicherheit auf unserem Kontinent wieder möglich wird."

Ab dem vierten Satz ("mit Blick auf die Zukunft...") ist das eigentlich genau, was ich auch denke. Und die Frau Schröder-Kim hat Angst vor den Folgen dieser Aussagen und löscht diesen Post.

Was den ersten Satz anbetrifft, möchte ich mal ein Gegenbeispiel konstruieren. Man weiß ja, dass VW oder die Telekom Firmen sind, die der Regierung hierzulande sehr nahe stehen. Zumindest könnte das im Ausland ähnlich gesehen werden, wie die Nähe von Gazprom zum Kreml.

Was würde passieren, wenn ein ausländisches Aufsichtsratsmitglied der Telekom zum Kanzler Scholz käme und sagen würde: ‚Die Öffentlichkeit bittet mich, Einfluss auf Sie zu nehmen, dass Sie von Waffenlieferungen an die Ukraine wieder Abstand nehmen‘. Was meint Ihr, würde Scholz denen sagen?

Die Diskussion ist an Absurdität nicht zu übertreffen.

Liebe Grüße

Mirko

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* Namen geändert.

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