Deutschland hat ein Produktivitätsproblem

Sonntag, 06.10.2024

Mirko Matytschak

Über die Idee des grenzenlosen Wachstums durch immer mehr Produktivität habe ich mich ja schon öfters ausgelassen, mit der Folgerung, dass uns das in die Selbstvernichtung treibt. Ich habe einen Artikel gefunden, in dem sehr schön die Grundzüge des Wachstumsparadigmas aufgezeigt werden und was Deutschland tun muss, um im selbstmörderischen Wettlauf der Länder um die höchste Produktivität wieder auf einen Spitzenplatz zu kommen.

In diesem Artikel, den n-tv von Capital geborgt hat, geht es um eine „Analyse“, warum Deutschland sein „Produktivitätsproblem“ nicht in den Griff bekommt, und was man tun sollte, damit sich das ändert.

In diesem Blogbeitrag habe ich versucht, die Gesetzmäßigkeit dieses Zwangs zum Wachstum und zur höheren Produktivität darzustellen, und ein wenig geschildert, welche Probleme daraus entstehen. Die Folgerung daraus ist, dass wir die Probleme, die uns als Menschheit blühen, nur dann vermeiden können, wenn wir das Wachstumsparadigma aufgeben. Wegen des Gesetzes des tendenziellen Falls der Profitrate ist das Ende des Wachstumsparadigmas auch gleichzeitig das Ende des Kapitalismus.

Der Artikel aus der Capital bestätigt im Grunde die Gesetzmäßigkeit, folgert aber daraus, dass wir noch mehr Gas geben sollten, um die kurzfristigen Probleme, die durch zu geringes Wachstum entstehen, in Griff zu bekommen.

Und noch mehr Gas ist hier tatsächlich auch im Wortsinn zu verstehen, also mit mehr Ausstoß von CO2.

Das Produktivitätsproblem

Aber darum soll es in diesem Beitrag nicht gehen. Mein Thema ist, dass der Kapitalismus nicht von einem Homo Oekonomicus betrieben wird, sondern eher von irrationalen Kräften, die den Zielen der Profitmaximierung im geschlossenen Wahngebäude des Kapitalismus entgegenwirken – und damit die Probleme verschärfen, die aus Gründen der Gesetzmäßigkeit ohnehin entstehen würden.

Die erste Hälfte des Artikel ist also ein wenig Wiederholung von Dogmen der Volkswirtschaftslehre, die durchaus lehrreich sind. Dann kommt der Artikel zu den Rezepten, wie wir dem „Produktivitätsproblem“ Herr werden könnten.

Unsere besonderen Freunde von McKinsey, in dem Fall in Person eines Herrn Mischke, haben da besonders gute Ideen:

Er hält es für wichtig, dass Deutschland vermehrt auf Wirtschaftsfelder setzt, in denen Wachstum und Produktivität höher sind.

Ein Professor Werding bringt das noch klarer auf den Punkt:

"In der Finanzkrise und während der Covid-19-Pandemie haben viele Unternehmen in Deutschland erfolgreich Fachkräfte gehalten, damit sie sofort wieder loslegen konnten, sobald die Nachfrage anzog oder die Lieferketten wieder funktionierten" […] Die Unternehmen horteten Arbeitskräfte, die anderen Branchen dann nicht zur Verfügung standen. So können sie aber ihre Fähigkeiten nicht dort einbringen, wo sie am produktivsten wären.

Also: Wir stellen Wirtschaftsbereiche ohne große Wachstumserwartungen ein und verschieben Personal in Wirtschaftsbereiche, in denen Wachstum und Produktivität höher sind.

Das ist eine uralte Idee, die bereits im 19. Jahrhundert formuliert wurde und letztlich im Modell der abstrakten durchschnittlichen Arbeitsstunde eines Arbeiters Ausdruck fand. Hierbei ist der Gegenstand der Arbeit unwichtig.

Die Fließbänder, die in den 50er Jahren aufgebaut wurden, sorgten dafür, dass eine vereinheitlichte stumpfe Form der Arbeit entstand, die von praktisch jedem ausgeführt werden konnte. Das ist gut für die Verschieblichkeit von Arbeitskräften. Sie werden da eingesetzt, wo gerade Not am Mann ist, egal, was da gerade produziert wird. Dahin wollen die genannten Experten zurück, wenn es heißt:

Menschen absichern statt Arbeitsplätze

Ja, diese sicheren Arbeitsplätze sind den Unternehmen und Wirtschaftsverbänden schon lange ein Pain in the Ass. Also weg damit, die Arbeiter entlassen, damit sie woanders anfangen können. Das Risiko trägt dann… genau: Die Arbeitslosenversicherung, also die Gesellschaft.

Die KI wird’s richten

Blöd nur, dass die Zeiten nicht mehr so sind, wie in den 50ern. Wir haben eine Menge Arbeitsplätze, die eine hohe Qualifizierung und damit Spezialisierung erfordern. Solche spezialisierten Arbeitskräfte lassen sich nicht nach Belieben z.B. von der Auto- in die Pharmaindustrie verschieben.

Auftritt: die künstliche Intelligenz. Das Versprechen: Eine unspezifisch qualifizierte Person, die den Umgang mit Computern gelernt hat, kann in jeder Branche mit Hilfe der KI Aufgaben erledigen, für die man vorher Experten gebraucht hätte. Das ist der feuchte Traum der BWLer und VWLer für das Fließband der Intelligenz im 21. Jahrhundert.

Die Rechnung wird nicht aufgehen, zumindest in vielen Bereichen nicht, weil dort die Produktivität durch den Einsatz von KI eher sinkt, um die Halluzinationen auszufiltern, die mit der Funktionsweise der KI untrennbar verbunden sind. Also, wenn Ihr mich fragt, sieht das eher nicht nach einer Lösung aus.

Es muss investiert werden

Die zweite Lösung, die im Artikel genannt wird, sind Investitionen. Ihr wisst ja: VW hat gerade eine Krise, die in den Medien so geschildert wird, als ob die Firma bald pleite ginge. Das liest sich dann so:

Am 4. Juni 2024 schüttete die Volkswagen AG für das Geschäftsjahr 2023 insgesamt 4,5 Mrd. Euro an seine Aktionäre aus.

Die Quelle ist übrigens die Volkswagen Group selbst. Was genau ist also das Problem?

Meines Erachtens nach lässt sich das am Thema E-Mobilität ganz gut darstellen. Um die E-Mobilität zu fördern und eine gewisse kritische Masse an Fahrzeugen auf die Straße zu bringen, wurde noch von der Merkel-Regierung eine Kaufprämie von 9.000 € gezahlt. Das war aber keineswegs ein Kaufanreiz. Denn die Autohersteller, allen voran VW, setzten die Preise für E-Autos so hoch an, dass trotz Kaufprämie immer noch ein höherer Preis für ein E-Auto gezahlt werden musste, als für einen Verbrenner. Die Prämie ging also zu 100% ins Säckel der Autohersteller, und – wie wir wissen – danach direkt zu den Aktionären.

Das steht übrigens, wie ich mir habe sagen lassen, im Gegensatz zur Vorgehensweise von Tesla: Dort wurden alle Verkaufserlöse reinvestiert. Ausschüttung für die Aktionäre: 0. Die Reinvestition war ein Versprechen von höherer Produktivität und größeren Marktanteilen in der Zukunft. Das trieb den Preis der Aktie in die Höhe und – voilá: Die Aktionäre brauchten keine Ausschüttung.

Anders bei VW und anderen deutschen Herstellern. Das Geld fließt aus der Firma direkt in die Taschen der Aktionäre und steht nicht für Reinvestitionen zur Verfügung. Die Produktivität leidet und die Autos sind daher zu teuer – zumindest auf dem deutschen Markt. Googelt mal, was VW für seine Autos in China verlangt.

Also: VW hat ein selbstproduziertes Absatzproblem. Genauer: Ein vom Management verursachtes Absatzproblem verbunden mit einem Produktivitätsproblem wegen fehlender Reinvestitionen in der Vergangenheit. Eine Erklärung muss her. Es ist dieselbe Erklärung, die Unternehmen seit mindestens 150 Jahren abgeben, wenn’s mal nicht so gut läuft: Die Arbeiter seien nicht produktiv und kosteten zu viel.

Und wir haben es ja von den Chefideologen des heimischen Kapitalismus in der Capital gehört: Die Lösung liegt darin, die Menschen abzusichern, statt der Arbeitsplätze. Ihr habt sicherlich ebenso viel Vertrauen in diese Analysen, wie ich, oder?

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