Das Gesetz, das uns zur Selbstvernichtung zwingt

Donnerstag, 13.04.2023

Mirko Matytschak

Vor einigen Jahren kam ich mir besonders schlau vor. Während andere für eine Überweisung zur Bank laufen mussten, konnte ich meine Überweisungen mit BTX online vornehmen. Heute ist es so, dass Personen, die ihre Überweisungen nicht online vornehmen, mit Gebühren bestraft werden. Der Zwang zur Rationalisierung hat unsere Gesellschaft fest im Griff. Das wird Konsequenzen haben, die uns nicht gefallen werden.

Bevor Jens Spahn als Energieexperte wiedergeboren wurde, hat er als Gesundheitsminister einen bemerkenswerten Satz von sich gegeben: Wer bei der elektronischen Patientenakte nicht mitmacht, muss mit eingeschränkter medizinischer Versorgung rechnen. Der Aufschrei war groß, Herr Spahn ruderte zurück. Aber er hatte ausgesprochen, was eine unabwendbare Tatsache ist.

Alle Vorgänge in unserem Leben werden digitalisiert. Dadurch werden sie manchmal einfacher, aber nicht immer. Ich denke an Bestellungen aus dem Internet, die nur dann einfacher sind, wenn man keine Beschwerden über das Produkt hat.

Ob einfacher oder nicht: So funktionieren Abläufe in unserer Gesellschaft, weil all diese Vorgänge rationalisiert werden müssen.

Der Zwang zur Innovation

Ich habe neulich in einem Beitrag einen kurzen Abriss der wesentlichen Merkmale des Kapitalismus aufgeschrieben. Eins der Merkmale ist der permanente Zwang zum Wachstum und zur Innovation. Dies ist ein Gesetz, dem der Kapitalismus nicht entkommt. Zu Ende gedacht, führt dieses Gesetz in eine Dystopie.

Karl Marx hat im „Kapital“ im Band 3 das Gesetz des tendenziellen Falls der Profitrate formuliert. Im Grunde genommen ist das eine simple Aussage, die dennoch wohl verstanden sein will, weil doch einige Konsequenzen daraus folgen, die unser Leben und das unserer Nachfolgegenerationen bestimmen.

Die Aussage ist, dass durch Innovationen im Herstellungsprozess zu einem Zeitpunkt in einer bestimmten Ware weniger Arbeitskraft steckt, als in vergangenen Zeiträumen. Es kann also im gesellschaftlichen Durchschnitt weniger Mehrwert aus der Herstellung des einzelnen Produkts geschöpft werden.

Wir haben eine Entwicklung der Herstellungsprozesse hin zu mehr Produktivität. Mit derselben Menge Arbeitskraft lässt sich eine größere Stückzahl an Waren herstellen. Marx stellt das als Formel dar, und die ist, mit den von Marx verwendeten Symbolen, wie folgt:

p = m / (c + v)

Dabei ist

p: die Profitrate
m: der Mehrwert
c: das eingesetzte konstante Kapital (Maschinen und Rohstoffe)
v: das eingesetzte variable Kapital (Arbeitskraft)

Durch Innovation sinkt nun der Anteil v des eingesetzten Kapitals gegenüber dem Anteil c, oder, anders ausgedrückt, der Anteil c steigt bei gleichbleibendem Anteil v. Nun rechnet er die Profitrate bei verschiedenen Anteilen c aus:

 

Wenn c = 50,

v = 100, so ist p´ = 100/150 = 662/3%.

 

Wenn c = 100,

v = 100, so ist p´ = 100/200 = 50%.

Im Grunde ist das ziemlich simpel. Marx dreht und wendet diese Tatsache jetzt einige Male, sodass man sie aus verschiedenen Blickwinkeln sehen kann, zum Beispiel in dem Satz:

Die progressive Tendenz der allgemeinen Profitrate zum Sinken ist also nur ein der kapitalistischen Produktionsweise eigentümlicher Ausdruck für die fortschreitende Entwicklung der gesellschaftlichen Produktivkraft der Arbeit. [Kursivsetzung von Marx]

In der Darstellung auf Wikipedia werden Diskussionsbeiträge genannt, die Zweifel daran wecken, ob das wirklich ein Gesetz ist, aber die Evidenz spricht dafür. Die fortwährende Innovation der Produktionsprozesse ist eine Tatsache, ebenso wie die daraus hervorgehende Folge, dass die Unternehmen, die in dieser Entwicklung zu langsam sind, auf Dauer ihren Profit einbüßen, nicht mehr wirtschaftlich produzieren können und daher Kandidaten für Übernahmen werden, wenn sie nicht komplett schließen müssen.1

Das Gesetz ist deshalb für viele Leser so verwirrend, weil der Ausdruck „fallende Profitrate“ suggeriert, dass hier irgendein absoluter Wert kleiner wird. Das ist jedoch nicht der Fall. Marx klärt diesen Sachverhalt in einem Absatz2, der allerdings etwas schwer zu lesen ist. Der Absatz sagt letztlich nichts anderes, als dass derselbe oder gar ein höherer absoluter Mehrwert geschöpft werden kann, während die Profitrate sinkt, wenn nur die Produktion entsprechend gesteigert wird.

Die erhöhte Produktivität der Innovationen macht im kapitalistischen Kontext nur dann Sinn, wenn sie mit der Erhöhung des Produktionsausstoßes einhergeht. Genau das ist der Zweck von Innovation im Kapitalismus. Daraus folgt:

Die kapitalistische Wirtschaft ist ohne Wachstum nicht denkbar.

Und weil das so ist, und weil das so in unsere Köpfe gehämmert worden ist, kann Dierk Hirschel, Chefökonom der Gewerkschaft Verdi, seines Zeichens ein marxistisch orientierter Ökonom, in einem Interview sagen, dass seine Vorstellungskraft nicht ausreiche, sich Innovation in der Gesellschaft auszumalen, die nicht durch die kapitalistische Produktionsweise entsteht.3

Wir haben also eine Abfolge an Phasen, die sich immer wiederholt:

  • Es gibt ein oder mehrere Unternehmen, die innovativ die Nase vorn haben und durch höhere Produktivität einen Extragewinn erwirtschaften.
  • Andere Unternehmen folgen nach, wodurch das erreichte Produktivitätsniveau Standard wird und daher keinen Extragewinn mehr erwirtschaftet. Stattdessen haben Unternehmen, die die Innovation nicht vorangetrieben haben, Nachteile im Wettbewerb.
  • Die erhöhte Produktionskapazität führt zu verschärftem Wettbewerb, der in Übernahmen oder in Konkursen endet. Außerdem ist sie eine Triebfeder zur Vergrößerung der Reichweite von Unternehmen in neue Märkte.

Update 26.04.2023: Die Berichterstattung über den Verkauf der Fa. Viessmann bringt es auf den Punkt:

Mit dem nun beschlossenen Teilverkauf gegen Aktien und Barmittel würde das Kerngeschäft des regional aufgestellten Unternehmens Viessmann im Carrier-Konzern aufgehen und eine deutlich höhere Kapitalkraft erlangen. Schnelleres Wachstum würde möglich, hieß es in Unternehmenskreisen. Letztlich zähle im globalen Wettbewerb irgendwann nur noch Größe und Stückzahl.

Diese Idee des „globalen Wettbewerbs“ ist eine Idée Fixe des kollektiven Wahns, der sich Kapitalismus nennt. Wie wir sie drehen und wenden: Die Folgen sind immer fatal.

Grenzwertbetrachtung

Nun kennen wir das Gesetz und seine Konsequenz. Jetzt kommt der Informatiker in mir zum Vorschein, der in dem ganzen Prozess eine Programmschleife sieht. In jedem Durchlauf der Schleife beobachten wir Investitionen in noch bessere Maschinen und einen noch höheren Grad an Automatisierung, in jedem Durchlauf der Schleife wird der Anteil an menschlicher Arbeit, der in einem Produkt steckt, geringer. Damit sich die Herstellung der Produkte lohnt, müssen immer größere Stückzahlen produziert werden.

Der Anteil menschlicher Arbeit wird dabei nie null, denn dann wären die Produkte kostenlos und kein Unternehmen könnte daran verdienen. Aber der Anteil der Arbeit tendiert gegen null. Bis es soweit ist, erleben wir in jedem Schleifendurchlauf eine weitere Konzentration der Wirtschaft auf immer weniger Produzenten.

Nehmen wir ein bestimmtes Produkt. Damit sich seine Produktion noch lohnt, müssen sehr hohe Stückzahlen nicht nur produziert, sondern verkauft werden. Denkt man die Entwicklung konsequent zu Ende, haben wir irgendwann einmal den Punkt erreicht, an dem der Bedarf der gesamten Menschheit an dem Produkt durch den Ausstoß eines einzigen Unternehmens mehr als gedeckt ist.

Angenommen, das Maß an Arbeit, das in dem Produkt steckt, ist extrem gering, sodass selbst multipliziert mit Milliarden an Abnehmern der erwirtschaftete Profit bei sehr kleinen Beträgen liegt. Die Produktion lohnt sich dann eigentlich nur, wenn der Hersteller auch die Produktion der Rohstoffe und aller Bestandteile des Produkts selbst übernimmt und denselben Produktivitätskriterien unterwirft.

(Als Zwischenstadium beobachten wir heute schon eine enge Vernetzung mehrerer Unternehmen, die zusammen eine vertikale Produktionskette betreiben.)

Alle Maschinen, die dafür verwendet werden, müssen ebenfalls so produktiv hergestellt werden können, dass ihre Anschaffung ebenfalls durch vergleichsweise geringe Beträge möglich ist, denn sonst würde sich die Produktion nicht weiter lohnen.

Damit das möglich ist, muss die Automatisierung sehr weit fortgeschritten sein, Maschinen müssten von anderen Maschinen automatisch gewartet werden, der gesamte Produktionsprozess aller Produkte weltweit müsste weitgehend automatisiert und vernetzt sein.

Das Problem daran ist nun, dass diese ungeheure Masse an Produkten mit einer verschwindend geringen Menge an Menschen produziert werden könnte (und müsste).

Ein praktisches Beispiel

Ihr seht, dass meine Betrachtung jetzt so ein wenig in Richtung Science Fiction geht. Aber das ist hier keine Märchenstunde. Betrachten wir einmal den Markt für Mikroprozessoren. Es gibt weltweit nur drei Firmen, die hochintegrierte CPUs herstellen können: Intel, AMD und TSMC. Intel und AMD stellen Chips für ihre eigene Marke her.

TSMC ist weltweit der einzige Auftragsfertiger für hochintegrierte Chips, die von anderen Firmen entwickelt werden. Firmen wir Qualcomm, Apple etc. entwerfen Chips, die dann ausschließlich von TSMC hergestellt werden können. Es gibt keine Alternative.

Für die Herstellung von so hochintegrierten Chips braucht man spezielle Belichtungsmaschinen. Diese werden von der Firma ASML in den Niederlanden hergestellt. Auch hier gibt es nur einen Hersteller, der so kleine Strukturen belichten kann4. Die Produktion ist so kompliziert, dass eine ständige Vernetzung zwischen TSMC und dem Hersteller der Belichtungsmaschinen nötig ist. Kenner der Branche sagen, dass selbst wenn China Taiwan überfallen würde, die TSMC-Fabriken von China nicht betrieben werden könnten, wenn die Vernetzung, die zur Produktion nötig ist, gekappt würde.

Das Maß an Automatisierung in den Herstellungsprozessen ist unvorstellbar, sonst könnte man sich die Chips, die in Handys etc. eingebaut werden, gar nicht leisten. Es ist also kaum menschliche Arbeit in einem einzelnen Chip enthalten.

Der Markt für Chips ist begrenzt und TSMC ist jetzt schon der einzige unabhängige Hersteller. Es können also keine weiteren Hersteller mehr geschluckt werden, wenn die Produktivität der Herstellung weiter zunimmt. Welche Möglichkeiten hat TSMC noch, um sein Wachstum voranzubringen?

Nun ist es gegenwärtig so, dass TSMC einen starken Umsatzrückgang vermeldet. Nicht auszudenken, was passieren würde, wenn das Unternehmen in eine wirtschaftliche Schieflage geriete und schließen müsste.

Die gesamte Weltwirtschaft hängt davon ab, in regelmäßigen Zeitintervallen leistungsfähigere Chips zu erhalten, um mit Produktinnovationen Märkte auszubauen. Fehlt der Impuls durch die Chips, wird die Wirtschaft schrumpfen und es gibt eine Wirtschaftskrise, die sich gewaschen hat.

Die Rolle der Investoren

Dazu kommt der Zwang zum Wachstum durch Investoren. Bislang haben wir ja nur den realwirtschaftlichen Teil unserer Gesellschaft betrachtet. Es gibt eine Finanzwirtschaft, deren Umfang geschätzt das 4-fache des Umfangs der Realwirtschaft beträgt. Diese großen Vermögen dringen in die Realwirtschaft ein und bedingen dort eine weitere Beschleunigung des Wachstums.

Ein Beispiel: Ich habe für ein Unternehmen Trainingsmaterial zum Thema Software-Entwicklung produziert. Diese Firma ist dann erst von einer australischen Firma aufgekauft worden, diese wurde dann umgehend von LinkedIn geschluckt und dieses wurde von Microsoft übernommen. Wir erinnern uns, dass hinter Microsoft ein Riesenvermögen steht.

Das Trainingsunternehmen kam in der Vergangenheit mit seiner Infrastruktur nicht hinter seinem Wachstum her. Die Räume waren immer zu eng, es gab immer zu wenige Studios.

Nun, da Microsoft einstieg, wurden erstmals ausreichend Räume gemietet, es wurden mehr Studios gebaut, als es der gegenwärtige Bedarf erforderte. Von einem Unternehmen, das aus seinen Gewinnen in die Infrastruktur investierte, wurde ein Unternehmen, das Schulden aus einer Millionen-Investition hinterher laufen muss. Das Wachstum ist nicht mehr eine schöne Erscheinung kluger Geschäftspolitik, es wurde zur einzigen Alternative. Das Erreichen einer Grenze, die zur Krise führt, ist vorprogrammiert.

Das ist kein Einzelfall, sondern passiert tausendfach gleichzeitig überall auf der Welt.

Das Erreichen von Grenzen, die die Krise auslösen, ist die Konsequenz, die Marx aus dem Gesetz des Falls der Profitrate zieht. Die Krisen kommen in immer engeren Zeitabständen, bis die kapitalistische Produktion komplett zusammenbricht. Dann müsste die Weltwirtschaft auf ein System umgestellt werden, in dem aus anderen Motivationen produziert wird, als der Profit, den die Produktion von Waren verspricht.

Aber es herrscht so eine Art nerdiger Optimismus, dass noch einmal neue Innovationen die Wirtschaft wieder ankurbeln werden. Alles muss für diesen Optimismus herhalten: Künstliche Intelligenz, Blockchain, Quantencomputer, etc. Warum sollen es gerade diese Technologien – vor allem die KI – richten? Das bringt uns zurück zu unserer Grenzwertbetrachtung, die wir noch ein Stück weitertreiben wollen.

Zurück zur Fiktion

Stand heute: Die verbleibende in den Chips steckende Arbeit ist Arbeitszeit von hochspezialisierten Personen. Auch in den Produktionsanlagen steckt relativ teure Arbeit von Spezialisten, die sich mit Quanteneffekten bei der Strahlung auskennen, mit der Strukturen im niedrigen Nanometer-Bereich belichtet werden können.

In immer größeren Anlagen steckt immer mehr hochspezialisiertes Know-how, das entsprechend teuer ist. Die logische Konsequenz daraus ist, dass die Produktionsprozesse für die Belichtungsmaschinen und für die Chips (und letztlich für alle Waren) in einer Weise automatisiert werden, in der weniger hochspezielle Arbeit nötig ist.

Der Traum von der künstlichen Intelligenz spiegelt die Verzweiflung wider, mit der eine Rationalisierung von Arbeitsprozessen angestrebt wird, die bislang noch arbeitsintensiv sind. Ich denke hier auch an die Unterstützung der Software-Entwicklung durch KI. Microsoft verschenkt seine Entwicklungsumgebung Visual Studio an Software-Entwickler, um seine KI-getriebenen Assistenten weiterzuentwickeln.

Die Hoffnung ist, dass Personen mit einem geringeren Schulungsgrad mit Hilfe der KI Programme schreiben können, die über ihren Möglichkeiten liegen. Der von der KI produzierte Code stammt aus dem Training mit Projekten, die von sehr erfahrenen Entwicklern stammen.

Künstliche Intelligenz soll also dafür sorgen, dass immer weniger Experten gebraucht werden, um immer höhere Stückzahlen von Produkten zu immer geringeren Preisen produzieren zu können – was eine weitere Konzentration der Hersteller nach sich zieht.

Gleichzeitig gibt es eine immer kleiner werdende Gruppe von Menschen, die wissen, wie das ganze System funktioniert, und eine immer größer werdende Mehrzahl an Menschen, die allenfalls weiß, wie man die Systeme bedient.

Überflüssige Menschen

Irgendwann haben wir dann einen Punkt erreicht, an dem ein Großteil der Menschen überflüssig ist. Der Kapitalismus lässt es auch nicht zu, dass die erhöhte Produktivität dafür genutzt wird, alle Menschen kostenlos zu ernähren. Es werden also immer mehr Menschen nicht wissen, wie sie sich ernähren sollen.

Sie könnten versuchen, sich von der Gesellschaft abzunabeln und selbst Nahrungsmittel anzubauen. Aber das wird nicht funktionieren, denn dazu braucht man Land und Land kostet Geld, das die meisten Menschen dann nicht haben werden. Ganz im Gegenteil: Wer vielleicht noch ein Grundstück sein Eigen nennt, wird es irgendwann veräußern müssen, weil es keine andere Möglichkeit gibt, an Lebensmittel zu kommen.

Die Lebensmittel mögen im Vergleich zu heute noch so günstig sein: Kaum jemand wird sie sich leisten können. Menschen werden massenhaft verhungern, die Kriminalität wird zunehmen, aber gleichzeitig durch ein unglaubliches Ausmaß an Überwachung und automatisierten Polizeisystemen in Schach gehalten. Hat hier jemand Revolution gesagt? Träum schön weiter.

Soweit zur Fiktion.

Die Dystopie lauert auf allen Wegen

Man sieht, dass die weitere Entwicklung des Kapitalismus in beiden beschriebenen Szenarien – der finalen Wirtschaftskrise oder dem Szenario der überflüssigen Menschen5 – nicht gerade verlockend ist. Dabei habe ich noch gar nicht über die Klimakatastrophe gesprochen. Ihr seht also: Die Segnungen des Kapitalismus sind vielfältig und das alles hat seine Wurzeln in der kapitalistischen Produktionsweise, der Konkurrenz und dem Zwang zum Wachstum.

Aber lasst mich diesen Beitrag mit einer weiteren Geschichte ergänzen.

Es gibt eine Website, auf der sich Anhänger der Entscheidungstheorie tummeln. Die Website nennt sich Less Wrong. Die Idee ist in etwa, dass die Beschäftigung mit formalisierten Entscheidungssystemen auch eine positive Wirkung auf Entscheidungen im richtigen Leben hat. Daher der Name less wrong, der den Wunsch ausdrückt, ein Leben mit weniger Fehlern zu führen.

Natürlich steht auch die Idee im Raum, die völlig nichtdeterministischen Entscheidungen von KI-Systemen durch Algorithmen aus der Entscheidungtheorie einzuhegen. Ich halte persönlich nicht viel von diesen Ideen, aber es gibt sehr vermögende Personen, die daran glauben und die Plattform less wrong und ihren Vordenker finanzieren.

Rokos Basilisk

In der Entscheidungstheorie sucht man sich nun Herausforderungen und legt diese den Entscheidungsalgorithmen vor. Es gibt da ein paar Standardszenarien, die von allen Systemen gemeistert werden müssen. Und dann gibt es Diskussionen über neue Herausforderungen. Eines Tages stellte ein Benutzer der Plattform mit dem Pseudonym Roko die Teilnehmer des Forums vor eine besondere Herausforderung:

Was wäre, wenn es eine KI gäbe, die noch nicht existiert, aber bereits heute alle Personen sanktioniert, die nicht zu ihrem Werden beitragen?

Auf den ersten Blick wirkt das wie in Science Fiction getränkter Unsinn.

Erstaunlicherweise aber begannen sich mehr und mehr Personen mit dem Thema zu beschäftigen und diese Aussicht, dass es da etwas gebe, das unser Verhalten beeinflusst, um etwas zu schaffen, das nicht im Sinne der Menschheit ist, beunruhigte immer mehr Menschen.

Als dann die ersten Foristen über psychische Folgen der Auseinandersetzung mit dem Thema berichteten, entschloss sich der Vordenker des Forums, Eliezer Yudkowsky, die Diskussion über das Thema zu stoppen.

Das heizte das Thema natürlich noch mehr an, nur wurde die Diskussion außerhalb des Forums geführt, es konnte also von besonneneren Personen kein Einfluss mehr auf den Verlauf der Diskussion genommen werden. Also nahm man das Thema wieder in das Wiki des Forums auf. Zitat:

A basilisk in this context is any information that harms or endangers the people who hear it.

(Ein Basilisk in diesem Kontext ist eine Information welche die Personen, die sie hören, schädigt oder bedroht.)

Woher kam das unheimliche Potential dieser Auseinandersetzung, die Psyche der beteiligten Diskutanten anzugreifen?

In der Rationalitätenfalle

Meine Vermutung ist, dass die Beteiligten intuitiv gespürt haben, dass wir in einer Realität leben, die jener Fiktion ziemlich nahe kommt. Die zunehmende Konzentration von Unternehmen, die zunehmende Kapazität der Maschinen steuert auf einen Fluchtpunkt zu, an dem es ein einziges omnipräsentes und allmächtiges Ding gibt, das alles produziert und verteilt6. Wir werden diesen Punkt möglicherweise nie erreichen, aber je näher wir ihm kommen, umso fataler werden die Konsequenzen sein.

Und alle helfen wir mit, diesen Punkt anzusteuern, denn sonst drohen uns Nachteile. Denn – wie in der Diskussion über das Gesetz der fallenden Profitrate auf Wikipedia richtig angemerkt wird: wir stehen mitten in einer Rationalitätenfalle.

Indem wir tun, was für uns als Individuen rational ist, und indem wir tun, was für unsere Unternehmen rational ist, tun wir das, was für die Gesamtheit der Gesellschaft fatal ist.

Das wirkt so, als gäbe es keinen Ausweg. Und dieser Umstand bereitet den Personen, die darüber nachdenken, Probleme. Es ist ein Basilisk.

Die Lösung ist einfach zu formulieren und doch so schwer umzusetzen: Wir müssen aufhören, unser Handeln am Profit7 auszurichten.

 

_______

1 Es wird häufig so dargestellt, als ob die Mitarbeiter schuld an dieser Entwicklung sind (wie in diesem Beispiel). Es wird behauptet, sie seien träge, nicht motiviert, verdienten zu viel, hätten zu viele Rechte, was zu Nachteilen für den Wirtschaftsstandort führe.

Es stimmt: Wir stehen in Konkurrenz mit frühkapitalistischen Strukturen in anderen Ländern, und wenn wir den neoliberalen Forderungen nach einem „besseren“ Wirtschaftsstandort ohne Widerstand nachgäben, fielen wir im Handumdrehen in die frühkapitalistische Ausbeutung der Arbeitskraft zurück – ohne langfristigen Erfolg.

Denn das Gesetz der fallenden Profitrate zwingt dieselben Unternehmen, die die Entwicklung mit fallenden Löhnen und abgebauten Sozialleistungen aufhalten wollen, über kurz oder lang trotzdem zur Aufgabe.

Ich spreche im Übrigen lieber von Unternehmen und nicht von Unternehmern. Zu Marx‘ Zeiten gab es noch Unternehmer, die man als konkrete Personen für die Verhältnisse verantwortlich machen konnte. Heute gibt es fast nur noch Konzerne, deren Unternehmen von angestellten Vorständen oder Geschäftsführern (CEOs) geleitet werden. Der geschöpfte Mehrwert fließt nicht mehr an Unternehmer, sondern an Großinvestoren.

2 Zitat:
Nimmt man eine gegebne Arbeiterbevölkerung, z.B. von zwei Millionen, nimmt man ferner, als gegeben, Länge und Intensität des Durchschnittsarbeitstags sowie den Arbeitslohn und damit das Verhältnis zwischen notwendiger und Mehrarbeit, so produziert die Gesamtarbeit dieser zwei Millionen und ebenso ihre Mehrarbeit, die sich in Mehrwert darstellt, stets dieselbe Wertgröße.

Aber es fällt mit der wachsenden Masse des konstanten – fixen und zirkulierenden – Kapitals, das diese Arbeit in Bewegung setzt, das Verhältnis dieser Wertgröße zum Wert dieses Kapitals, der mit seiner Masse, wenn auch nicht im selben Verhältnis, wächst. Dies Verhältnis und daher die Profitrate fällt, obgleich nach wie vor dieselbe Masse lebendiger Arbeit kommandiert und dieselbe Masse Mehrarbeit vom Kapital aufgesaugt wird.

Das Verhältnis ändert sich, nicht weil die Masse der lebendigen Arbeit fällt, sondern weil die Masse der von ihr in Bewegung gesetzten bereits vergegenständlichten Arbeit steigt.

3 Das Interview ist insgesamt höchst empfehlenswert, weil es einen sehr guten Einblick in die Arbeit der Gewerkschaften bietet.

4 Es gibt ein US-Embargo gegen China, das den Export neuerer Belichtungsgeräte nach China verbietet. Es werden militärische Gründe vorgeschoben, aber üblicherweise arbeitet das Militär mit Chipgenerationen, die etwas ausgereifter sind und nicht über das höchste Maß an Integration verfügen. Das Ziel der Sanktionen ist es, Chinas Wirtschaft zu sabotieren. China ist verzweifelt bemüht, eine eigene Produktionskette für hochintegrierte Chips aufzubauen. Angeblich ist es einem chinesischen Hersteller gelungen, ein Belichtungsgerät für 28nm-Strukturen zu entwickeln. Das entspräche einem Forschungsrückstand von 12 Jahren gegenüber der Kombination von ASML und TSMC. Update 30.11.2023: Ein chinesischer Hersteller stellt eine CPU mit 12nm-Technologie vor. Diese entspräche etwa den Ryzen 3-Desktop-CPUs, die 2017 vorgestellt wurden. Der Forschungsrückstand beträgt also nur noch 6 Jahre, wenn denn die CPU in der Praxis einsetzbar ist. Allerdings benötigen diese CPUs Belichtungstechnik von ASML. Die Generationen dieser Technologie, die nach China verkauft werden dürfen, scheinen zur Herstellung der 12nm-CPUs auszureichen.

5 Das ist wie ein Schalter mit zwei Stellungen: 1. Es geht weiter mit dem Kapitalismus, und 2. Es geht nicht weiter mit dem Kapitalismus. Die erste Stellung endet im Krieg der Reichen gegen die Armen (die Passage mit der Hinterzimmerkonferenz der Superreichen stammt aus diesem Artikel). Die zweite Stellung führt über die Krise zu der Entscheidung der Menschen, sich eine Alternative zum Kapitalismus zu suchen. Dumm wäre es, nach der großen Krise mit dem Kapitalismus weiter zu machen. Aber dann steht dieselbe Entscheidung eben später nochmals an.

6 Abstrakt gesehen, folgert daraus das Ende der Mehrwertschöpfung, weil die Profitrate so gering wird, dass sie durch Steigerungen der Produktion nicht mehr ausgeglichen werden kann. Um den Kapitalismus zu retten, braucht es daher ein großes Ereignis, bei dem viel kaputt geht und neu aufgebaut werden muss. Das ist die Rolle der Kriege, die ich in meinen bisherigen Betrachtungen ausgeklammert habe.

7 Mit Profit meine ich hier das Verhältnis von Ertrag zu eingesetztem Kapital auf der Basis der Mehrwertschöpfung in der kapitalistischen Produktion. Es geht also nicht um die kleinen Gewinne aus unseren kleinen Unternehmungen, in denen wir Selbstausbeutung betreiben, die uns einen gewissen Wohlstand beschert. Es geht um das massive Absaugen von Wert in der Gesamtheit der kapitalistischen Produktion und der Finanzierung derselben.

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