Das beste aller Systeme

Freitag, 07.04.2023

Mirko Matytschak

Es gibt in Vilsbiburg eine philosophische Gesprächsrunde, die ein engagierter Bürger im Rahmen der VHS veranstaltet. Ich habe dort einige Male teilgenommen und im Rahmen der Gesprächsrunde die Frage vorgelegt, ob die Mischung aus repräsentativer Demokratie und Kapitalismus wirklich die ideale Kombination zur Gestaltung einer menschlichen Gesellschaft ist. Die Gesprächsbeiträge haben gezeigt, dass es Klärungsbedarf gibt.

Es hat sich in der Gesprächsrunde gezeigt, dass die hohen Werte der Demokratie allgemein sehr geschätzt werden. Das ist schön, aber das System der repräsentativen Demokratie hat Schwächen. Und es gehört zum Wesen der Demokratie, dass man über diese Schwächen spricht.

Demokratie

Die Demokratie ist nämlich ein Gesellschaftssystem für Philosophen. Also nicht für Menschen, die dem Klischee des weltfremden Bücherwurms entsprechen, der keinen Nagel in die Wand geschlagen bekommt, sondern für Menschen, die Freude am Wissen haben. Und Wissen heißt hier nicht, dass man irgendwelche Fakten paukt, oder die Zahl Pi auf 15637 Stellen hinter dem Komma aufsagen kann. Wissen bedeutet hier Erkenntnis, die gewonnen werden kann, wenn wir den Verstand benutzen.

Der von allen Freunden der Demokratie so gepriesene Platon hat seine Erkenntnisse nicht einfach zum In-Stein-meißeln aufgeschrieben, sondern er hat Diskurse aufgeschrieben, in denen verschiedene Standpunkte geäußert wurden. Es blieb dem geneigten Leser überlassen, sich zu den Standpunkten seine eigene Meinung zu bilden. Selbst denken war hier das Motto. Und wer in der Lage ist, selbständig zu denken, ist auch in der Lage, eine Gesellschaft mitzugestalten.

Demgegenüber steht nun ein System, in dem narzisstische Personen durch manipulative Werbung in Ämter gehoben werden, in denen sie für ein paar Jahre über die Köpfe der Bevölkerung hinweg entscheiden. Und für die meisten Menschen in unserer Gesellschaft ist das auch völlig in Ordnung so, weil sie über die Entscheidungen weder nachdenken können, noch nachdenken wollen. Dafür gibt es Gründe, und es ist wichtig, diese Gründe zu verstehen, auch wenn ich an dieser Stelle nicht weiter darauf eingehen kann.

Diese Entscheidungen, die da von Berufspolitikern getroffen werden, haben meist nichts mit dem Wohl der Bevölkerung zu tun, sondern mit Bewahrung und Mehrung des Reichtums einer Elite. Die Entscheidungen haben mit Macht und Einflussbereichen zu tun, und der absurden Idee, dass Staaten im Wettbewerb stehen, und unser Staat in diesem Wettbewerb ganz vorne mitmischen muss. („Unser Staat“ ist natürlich in jedem Land ein anderer.)

Die Kriterien, nach denen ein Staat in diesem Wettbewerb vorne oder hinten steht, sind für die normalen Bürger intransparent. Sie sollen ja auch nicht mitdiskutieren, sondern mitstrampeln, angeblich, damit die Ziele im Wettbewerb erreicht werden. Die gemeinsame Anstrengung lässt sich umso besser aufrecht erhalten, je mehr der Eindruck in der Bevolkerung vorherrscht, dass wir im Wettbewerb nach hinten durchgereicht werden.

Schwächen der Demokratie

Das wäre jetzt ein guter Punkt um innezuhalten, Stift und Zettel (wahlweise eine Notizblock-App) zu zücken, und mal eine Liste der Probleme aufzuschreiben, die durch meinen kurzen Rundgang durch das Wesen der modernen Demokratie angerissen wurden. Es gilt zu verstehen, warum der Brexit von Leuten gewonnen werden konnte, die behauptet haben, dass durch einen Beitritt der Türkei zur EU 70 Mio Türken nach Großbritannien kommen. Und dass mit den 350 Millionen Pfund, die Woche für Woche nach Brüssel überwiesen werden, das Gesundheitssystem saniert werden könnte. Die hätten eigentlich haushoch verlieren müssen, weil die Bevölkerung zu Recht hätte sagen können: „Wer solch einen Schwachsinn verbreitet, ist mit Sicherheit nicht in der Lage, die Folgen eines Austritts aus der EU abzuschätzen.“

Wie allgemein bekannt ist, ist Großbritannien aus der EU ausgetreten. Ihr könnt ja mal die Suchmaschine Eurer Wahl anwerfen, um zu sehen, wie es um die großartige Sanierung des Gesundheitssystems steht. Da werdet Ihr auch finden, dass die Gesamteinwohnerzahl der Türkei 84 Mio ist.

Es gilt zu verstehen, wieso man Menschen Glauben machen kann, dass die Lieferung von Waffen in ein Kriegsgebiet helfen kann, einen Krieg zu beenden. Es gibt kein einziges Beispiel in der Geschichte, bei dem das funktioniert hätte.1

Es ist das Wesen der Philosophie, nicht zu glauben, sondern die Erscheinungen zu hinterfragen. Die Aufgabe ist nicht, zu erklären, warum der Ukraine-Krieg so anders ist, als andere Kriege, und warum es gerade jetzt so wichtig ist, dort Waffen hinzuliefern. Die Aufgabe ist, zu verstehen, wie sich zwei Fakten vereinbaren lassen: Erstens die Tatsache, dass der Krieg von keiner der Parteien zu gewinnen ist und zweitens, die unablässig veröffentlichte Forderung, dass eine der beiden Parteien den Krieg unbedingt gewinnen muss. Diese beiden Fakten lassen sich miteinander vereinbaren, aber das Bild, das dabei entsteht, könnte die Bevölkerung verunsichern.

Aber gerade darum geht es in der Demokratie: Um die Fähigkeit der kritischen Betrachtung der Ereignisse.

Kapitalismus

Wenn ich in einer Gesprächsrunde die Schwächen der repräsentativen Demokratie andeute, oder den Kapitalismus als Wurzel essentieller Probleme beschreibe, höre ich häufig die Antwort: Es gibt doch keine Alternative, denn alle Versuche, einen Kommunismus zu etablieren, haben zu Diktaturen geführt, in denen niemand leben will. Und im Übrigen bliebe es mir ja unbenommen, in China oder (damals in den 80ern) in der Sowjetunion zu leben. Touché!

Es fällt mir auf, dass bei Rückfragen, was denn unter Kapitalismus bzw. Kommunismus verstanden werden kann, meist ziemlich wenig kommt. Das Argument, dass der Kommunismus das schlechtere Gesellschaftssystem ist, als unsere Kombination aus repräsentativer Demokratie und Kapitalismus, schwächelt also ein wenig vom Fundament her.

Was ich hier versuche, ist ein Blick aus 10.000m Höhe auf den Kapitalismus und eine Kurzdarstellung, was das Problem daran ist. Wer sich näher mit dem Thema beschäftigen möchte, dem sei der Anfang des ersten Bandes des „Kapital“ von Karl Marx empfohlen. Das sind so gut 100 Seiten zu lesen, im Wesentlichen das Kapitel „Die Ware“ und ein klein wenig darüber hinaus.

Dort findet ihr die Kernaussage, dass das wertbildende Moment die in einer Ware vergegenständlichte menschliche Arbeitskraft ist. Das wird im Buch ausführlich belegt. Es wird der Doppelcharakter der Ware beschrieben, also ihre Eigenschaft, dass sie gleichzeitig Nutzwert und Tauschwert2 repräsentiert. Es wird der Nutzwert des Goldes (und anderer Edelmetalle) beschrieben, nämlich, dass es sich hervorragend als Tauschmittel eignet, und der Fetisch, der daraus entsteht. Und wie sich das Geld aus dem Gold (Silber etc.) als Tauschmittel entwickelt hat.

Wir landen dann irgendwann an einem Punkt, an dem wir verstehen, dass die menschliche Arbeitskraft eine Ware ist, die auf einem speziellen Markt – dem Arbeitsmarkt – angeboten wird. Über diesen Punkt herrscht übrigens heutzutage so ziemlich Konsens.

Die zwei Kreisläufe des Kapitalismus

Die arbeitenden Menschen verkaufen ihre Arbeitskraft als Ware, erhalten dafür Geld und können mit dem Geld Waren kaufen, die sie zum Leben – sprich: zur Erhaltung ihrer Arbeitskraft – brauchen. Dieser erste Kreislauf des Kapitalismus kann als Formel beschrieben werden: W – G – W.

Demgegenüber steht der Kreislauf des Unternehmertums: Unternehmer setzen Geld für den Kauf von Produktionsmitteln, Rohstoffen und nicht zuletzt der Arbeitskraft der Arbeitnehmer ein. Sie produzieren damit Waren, für die sie Geld erhalten. Der Betrag an Geld, das sie dafür erhalten, sollte höher sein, als der Betrag, den sie einsetzen. Daraus entsteht Gewinn, bzw. – im Verhältnis zum eingesetzten Kapital berechnet – Profit. Die Erwartung von Profit ist das Kriterium, nach dem ein Unternehmen begonnen wird. So lässt sich der zweite Kreislauf beschreiben, der Kreislauf der Unternehmen: G – W – G‘. Das Strichlein nach dem zweiten G soll zeigen, dass es sich hier um einen anderen Betrag handelt, als der eingesetzte Betrag.

Wichtig bei der Betrachtung der beiden Kreisläufe ist nun eins: Das Geld, das die Arbeitnehmer für ihre Mühen erhalten, steht in keinem Verhältnis zum Wert der produzierten Waren. Die Arbeitnehmer erhalten einen Betrag, der sich an den Bedürfnissen zu ihrer Regeneration und Reproduktion orientiert.

Das ist der wesentliche Kern des Kapitalismus. Daraus lässt sich ohne große Mühe eine Folgerung schließen:

Die ökonomischen Interessen der Unternehmen und der Arbeitnehmer sind per Prinzip entgegengesetzt.

Denn das erzielbare G‘ wird umso höher, je niedriger das G im Wirtschaftskreislauf der Arbeitnehmer ausfällt. Nun ist die Frage: Wie tief kann man da gehen? Dies haben die Unternehmer im Frühkapitalismus weitestgehend ausgetestet. Wir sprechen hier von „akzeptablen Todesraten“ in der Arbeitnehmerschaft.

Aber wir brauchen keine Zeitmaschine, um uns solche Verhältnisse anzuschauen. Es reicht, die Produktionsverhältnisse in Ländern wie Bangladesh, Vietnam, Pakistan oder einigen afrikanischen Staaten zu betrachten, die für Waren arbeiten, die in unsere entwickelten Länder importiert werden, um zu sehen, dass die frühkapitalistische Ausbeutung noch kein Ende genommen hat.

In den Industriestaaten ging die Ausbeutung der Arbeiter*innen so weit, dass die Staaten Gesetze erlassen haben, die die Ausbeutung eingrenzten. Natürlich geschah das erst infolge intensiver Arbeitskämpfe3. Der Liberalismus wiederum wendet sich gegen diese Einmischung des Staates. Vergesst das nicht, wenn wieder einmal Parteien um Eure Stimmen buhlen, die das Wort „Frei“ in ihrem Parteinamen verwenden. Hier ist nicht Eure Freiheit gemeint. Hier ist die Freiheit der Unternehmen gemeint, ohne staatliche Einmischung ihren Profit zulasten der Arbeitnehmer zu maximieren: Der „Markt“ regelt das schon. Der Neoliberalismus möchte die Verhältnisse des Frühkapitalismus wieder herstellen.

Update 16.04.23: Hatte ich liberal gesagt? Die Konservativen stehen in nichts zurück. Kinderarbeit? Kein Problem.

Wir haben bis zu diesem Punkt noch nicht einmal den Begriff Marktwirtschaft erwähnt. Das Konzept der sozialen Marktwirtschaft suggeriert, dass es einen Markt gibt, auf dem Angebot und Nachfrage den Preis bestimmen, und dass es einen Arbeitsmarkt gibt, in dem Angebot und Nachfrage eine Balance zwischen den Interessen der Arbeitnehmer und der Unternehmen schaffen. Das ist ein sehr fragwürdiges Konstrukt.

Ein Markt setzt voraus, dass er von Teilnehmern gebildet wird, die freiwillig handeln. Dies ist im Fall der Arbeitnehmer jedoch nicht der Fall. Unsere Welt würde anders aussehen, wenn die Arbeiter in Bangladesh eine echte Alternative zur Lohnarbeit hätten, um ihre Familien zu ernähren. Es ist nicht anzunehmen, dass die Menschen dort ihre Kinder freiwillig die Fußbälle für die westlichen Kids nähen lassen.

Ebenso wenig freiwillig ist die Beschäftigung unserer Arbeitnehmer in der „sozialen“ Marktwirtschaft, auch wenn die Gegenleistung dafür höher ausfällt.

Umwelt

Eine weitere Folgerung aus dem Kreislauf G – W – G ist die Tatsache, dass in der Produktion Ressourcen der Umwelt eingesetzt werden. Unternehmen setzen Geld für Produktionsmittel, Rohstoffe und Löhne ein. Daraus werden Waren produziert. Wenn wir jetzt ein System haben, das permanent wachsen muss, um Krisen zu vermeiden, wandern immer mehr Rohstoffe (auch in Form von Rohenergie) in den Produktionskreislauf, es entstehen immer größere Belastungen für die Umwelt.

Der Zwang zum Wachstum ergibt sich direkt als Folge der Steigerung der Produktivität durch technischen Fortschritt. Lässt sich ein Produkt im gesellschaftlichen Durchschnitt mit weniger Arbeitseinsatz herstellen, als in einem früheren Zeitraum, so entfällt weniger Mehrwert auf das einzelne Produkt. Das würde niemand machen, wenn es nicht zwei Möglichkeiten gäbe, diesen Effekt zu kompensieren:

  • Höhere Stückzahlen
  • Geringere Löhne

Das Senken der Löhne hat eine Untergrenze, ab der es den Arbeitern nicht mehr möglich ist, ihren Lebensunterhalt zu bestreiten (es gibt auch anders geartete Untergrenzen, wie zum Beispiel ein gesetzlicher Mindestlohn). Also bleibt eigentlich nur das Wachstum, die Ausweitung der Märkte, um höhere Stückzahlen zu verkaufen.

Sind die Märkte begrenzt, entsteht eine scharfe Konkurrenz um den Absatz und hierbei bleiben die Unternehmen mit den höheren Stückkosten bzw. der geringeren Produktivität auf der Strecke. Dies führt zu einer Konzentration des Kapitals auf wenige Unternehmen, die wir seit Jahren sehr gut beobachten können. Geben die Märkte insgesamt keinen höheren Absatz mehr her, folgt eine Wirtschaftskrise. Dieser Mechanismus ist hier beschrieben und wird auf Wikipedia ausführlich diskutiert.4

Ohne dieses Thema weiter zu vertiefen, obwohl es eine Vertiefung verdient hätte, möchte ich darauf hinweisen, dass dieser Zwang zum Wachstum die Probleme verursacht, die wir gegenwärtig mit dem Klima haben. Die Auseinandersetzung mit der Klimakatastrophe ist daher in ihrem Wesenskern Kapitalismuskritik.

Lebensräume

Gehen wir noch einmal zurück zum Frühkapitalismus. Wer würde freiwillig für ein paar Pfennige in einer Fabrik arbeiten wollen? Kein Mensch. Die Entwicklung des Kapitalismus war möglich, weil durch einen Umbruch in der Gesellschaft die herkömmlichen Methoden, mit denen sich Menschen ernährt haben, zusammengebrochen sind. Diese Entwicklung kann man historisch nachvollziehen und das ist an verschiedenen Stellen bereits geschehen. Die Stichworte sind „Landflucht“ und „Industrielle Reservearmee“.

Ein weiterer wichtiger Mechanismus, der Menschen als Arbeiter in die kapitalistische Produktion treibt, ist der militärische Zwang. Im selben Maß, in dem in England die gesetzliche Arbeitszeit verringert wurde (die durch Verringerung des Lohns mehr als kompensiert wurde), nahmen die Anstrengungen zu, an anderen Orten der Welt durch militärische Gewalt die Lebensbedingungen der Menschen zu zerstören und die kapitalistische Produktionsweise mit der üblichen grenzenlosen Ausbeutung der Arbeitskraft einzuführen.

Dies wurde zum Beispiel in Indien kombiniert mit dem Verbot, bestimmte Waren (zum Beispiel Stoffe) selbst herzustellen. Die grenzenlose Ausbeutung wurde also ins Ausland externalisiert und dort wurden wirtschaftliche Strukturen etabliert, die den entwickelten Staaten (im Lauf der Zeit eben nicht nur das UK) die Kontrolle über die Wirtschaft und die Rohstoffe verschaffte. Wenn in Staaten versucht wurde, diese Verhältnisse zu ändern, kam das Militär zum Einsatz.

Diese Vorgehensweise hat sich im Prinzip bis heute gehalten. Der Kolonialismus (also die direkte politische Herrschaft über andere Länder) wurde ersetzt durch den Imperialismus (die militärische und wirtschaftliche Kontrolle der Länder, ohne direkt Regierungsgewalt auszuüben). Auf der Welt gibt es knapp 200 Länder. Einige wenige Länder (nennen wir sie G7 oder G20) kontrollieren wirtschaftlich und militärisch die Geschicke dieser Länder und die Lebensbedingungen der Menschen, die dort leben. Die Interessen sind immer die gleichen:

  • Billige Arbeitskräfte
  • Billige Rohstoffe
  • Billiges Land für die Agrarproduktion
  • Absatzmärkte für die eigenen Waren

Aufbegehren

Wenn nun Länder dies nicht weiter hinnehmen wollen, müssen sie die Macht der Konzerne brechen, sie müssen unter Umständen Landbesitzer enteignen, sie müssen Gesetze erlassen, die der einheimischen Produktion Vorteile gegenüber den Waren aus dem Ausland verschaffen, um jene wieder aufzubauen. Kann ein rohstoffreiches Land zum Beispiel Rohstoffe in die Welt exportieren, ist es theoretisch in der Lage, Strukturen zu schaffen, die der eigenen Bevölkerung zu Gute kommen. (Update 26.04.: Chile beschreitet gerade diesen Weg.)

Soweit so schön, dieser Traum von einer besseren Welt. Staaten, die so etwas unternehmen, werden nämlich gnadenlos abgestraft. Es werden Sanktionen verhängt, und in vielen Fällen wird auch das Militär geschickt. Rebellentruppen5 werden aufgerüstet, die Region wird destabilisiert.

Nehmen wir einmal Venezuela als Beispiel. Hugo Chavez hat dort genau das getan, was ich weiter oben skizziert habe. Dafür kassierte sein Land Sanktionen der USA6. Es war schlichtweg unmöglich, Rohöl an andere Länder zu exportieren. Die Sanktionen zeigten Wirkung und führten zu immensen wirtschaftlichen Problemen in Venezuela. Im so geschaffenen Klima der Verelendung wurden die politischen Kräfte aufgebaut, die Chavez und seinen Nachfolger Maduro zu Fall bringen sollten.

Bei uns in Deutschland liest man in den Medien unisono, dass Venezuela an Misswirtschaft durch die Regierung leidet. Man echauffiert sich darüber, dass Maduro die Meinungsfreiheit einschränkt. Was für eine Heuchelei.

Nehmen wir Libyen. Ein alles andere als demokratischer Staat mit einem schrulligen Regierungschef, der aber, was die Geschicke seines Landes anbetraf, den Kopf oben hatte. Libyen hatte eine florierende Wirtschaft, es wurden ca. 2 Millionen afrikanische Gastarbeiter beschäftigt. Die Bedeutung Libyens in der Region nahm zu, und sollte wegen der Pläne, die umliegenden Regionen aus dem „Great Man Made River“-Projekt mit Wasser zu versorgen, noch weiter zunehmen.

Unbestritten hatte Libyen seine Probleme mit dem aufkeimenden arabischen Frühling. Aber in Libyen ging es nicht um mehr Demokratie für die Menschen.

Die Demonstrationen führten innerhalb weniger Wochen zu Aufständen bewaffneter Horden. Dann griffen westliche Staaten (Frankreich, USA, GB und Kanada) mit Bombardements in den Konflikt ein. Die Folge: Das Land ist ruiniert und die 2 Millionen Gastarbeiter fristen ihr Dasein in anderen Ländern als Flüchtende.

Ich vergleiche das Geschehen in Libyen immer mit fiktiven Demonstrationen in Niederbayern. Angenommen, die Hälfte der Bevölkerung Niederbayerns (ca. 600.000 Menschen) wäre täglich auf der Straße, um gegen die Regierung zu demonstrieren. Plötzlich hätten diese Niederbayern Waffen, mit denen sie sich in Richtung Berlin vorarbeiten.

Also ich würde mich fragen, woher die Niederbayern auf einmal all die Waffen haben. Jemand mit einem großen Interesse an der Destabilisierung Deutschlands muss sie bewaffnet haben. Seltsam, dass in Bezug auf Libyen die großen, faktencheckenden Medien diese Frage nie gestellt haben.

Der „Vergleich der Systeme“

Es wird immer wieder in Diskussionen der „Vergleich der Systeme“ beschworen, bei dem der Kommunismus7 so schlecht abschneidet.

Die Beispiele Venezuelas und Libyens zeigen, dass ein solcher Vergleich nicht möglich ist, weil sich Staaten mit einer sozialistischen Grundausrichtung sofort mit Sanktionen und militärischer Bedrohung auseinandersetzen müssen. Dazu kommt noch die Stimmungsmache in der Bevölkerung durch externe Mächte.

Kein Wunder, dass solche Staaten wirtschaftliche Probleme haben. Wer kann schon mit einer Atommacht mithalten, die fast eine Billion Dollars für Rüstung pro Jahr ausgibt?

Staatskapitalismus

Dazu kommt noch etwas. Ein Land, in dem es eine Revolution oder zumindest Reformen im sozialistischen Sinn gibt, fängt nicht von einem Tag auf den nächsten mit dem Kommunismus an. So ein Land kann nicht auf einen Schlag die Geld- und Warenkreisläufe neu definieren. Man beginnt meist damit, die größte Schwäche des Kapitalismus, nämlich die Ausrichtung der Produktion am Profit statt an den Bedürfnissen der Bevölkerung, durch eine zentrale Steuerung der Wirtschaft zu ersetzen. Es soll ermittelt werden, welche Bedürfnisse vorliegen, und die Unternehmen sollen das dann produzieren. Diese Art der Kontrolle funktioniert am besten, wenn die Unternehmen nicht in privater, sondern in öffentlicher Hand sind, sprich: sie gehören dem Staat.

Ich möchte an dieser Stelle explizit darauf hinweisen, dass „Gemeineigentum“ und „Eigentum des Staates“ zwei unterschiedliche Dinge sind.

Die Enteignung der Unternehmen, also die Überführung des Eigentums an den Staat, schafft ein Wirtschaftssystem, das man am besten als „Staatskapitalismus“ beschreiben kann. Die Abschöpfung des Mehrwerts bleibt bestehen, die Wirtschaftskreisläufe G – W – G  und W – G – W bleiben dieselben Die Rechtlosigkeit der Arbeiter gegenüber dem Staat als Besitzer der Produktionsmittel ähnelt der Rechtlosigkeit der Arbeiter gegenüber den privaten Besitzern von Produktionsmitteln.

Ich möchte das Thema hier nicht weiter vertiefen, aber es ist evident, dass zum Beispiel die Sowjetunion oder die DDR typische Beispiele für staatskapitalistische Systeme waren. Es zeigt sich an diesen Beispielen im Übrigen, dass der produzierte Mehrwert nicht unbedingt zur Deckung der Bedürfnisse der Allgemeinheit eingesetzt wurde.

Was bleibt angesichts dieser Tatsache vom „Vergleich der Systeme“ übrig? Offenbar nur, dass er eine Nebelkerze ist.

Betrachten wir nun noch einmal den privatwirtschaftlichen Kapitalismus: Durch die steigende Konzentrationen in Konzerne gibt es eine immer stärkere Konzentration der Entscheidungen. Nehmen wir einmal die Lebensmittelproduktion. Ein Großteil der weltweit hergestellten Lebensmittel wird von diesen 5 Firmen produziert:

  • Nestlé
  • PepsiCo
  • Danone
  • Kraft Heinz
  • Mondelez

Die weltweite Entscheidung darüber, was produziert wird, wo produziert wird, was in den Produkten enthalten ist, woher die Rohstoffe kommen, liegt in den Vorstandsbüros von fünf Unternehmen. Das hat dann doch eine gewisse Ähnlichkeit mit der zentralen Lenkung im Staatskapitalismus. Die Argumente, die gegen den Staat als angeblich schlechten Unternehmer sprechen, sprechen mit gleicher Berechtigung gegen große Konzerne als Unternehmer.

Ein Gedanke zum Schluss: Wenn eine Gesellschaft tatsächlich die Produktion an den Bedürfnissen der Bevölkerung ausrichten soll, stellt sich die Frage, wer diese Entscheidung treffen und wie dieser Personenkreis bestimmt werden soll. Es stellt sich die Frage, ob die Bevölkerung in der Lage ist, die richtigen Personen für diese Aufgabe zu delegieren, die sich durch die Fähigkeit auszeichnen, rationale Entscheidungen zu treffen.

Ohne diesen Gedanken hier weiterführen zu können, möchte ich als Spoiler Wilhelm Reich zitieren, der sinngemäß sagt: Die Probleme der Menschheit sind nicht auf der politischen Ebene zu lösen.

Fazit

Die repräsentative Demokratie ist ein Tummelplatz für Narzissten, deren vordringlichste Aufgabe darin besteht, den Besitz der Besitzenden zu wahren. Der Kapitalismus ist im Kern unmenschlich und irrational. Das soll in Kombination das beste aller Systeme ergeben? Es ist sehr verwunderlich, warum so viele Menschen, deren tägliches Leben von diesem Irrsinn bestimmt wird, genau daran glauben, und wie es große Medien geben kann, die diese Haltung unterstützen.

Was stimmt nicht mit den Menschen? Ist es die menschliche Natur, die „uns“ so stumpf und grausam macht, oder ist es ein Defekt? Worin besteht dieser Defekt, wenn es denn einer ist? Wie könnte man ihn beheben? Das sind Fragen, über die nachzudenken sich lohnt.

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* Wenn ich das generische Maskulinum verwende, meine ich tatsächlich alle Menschen. Alle sind betroffen. Ich spare mir im Weiteren die Verwendung von Gender-Sternchen, um den Text lesbar zu halten.

1 Wer jetzt das Beispiel der Alliierten im zweiten Weltkrieg heranzieht, der hat die Ausnahme gefunden, die die Regel bestätigt. Der Sieg der Alliierten im zweiten Weltkrieg ist übrigens die Blaupause für die US-Politik seit dieser Zeit: Indem eine Region durch Kriege destabilisiert wird, erhalten die USA den Einfluss über die Region. Die USA hatten beschlossen, eine Weltmacht zu werden, und der zweite Weltkrieg hat ihnen die Chance gegeben, diese Rolle einzunehmen. Man könnte das nun so verstehen, dass das Ende des zweiten Weltkriegs der Einstieg in eine Serie von weiteren Kriegen war. Eine Serie, die bis heute anhält.

2 Es gibt kein Thema bei Marx, das verwirrender ist, als der Begriff „Wert“ (genauer: Tauschwert) und die Unterscheidung zum Begriff „Preis“. Wert ist ein abstrakter Begriff, seine Einheit ist die Arbeit, die in einer gesellschaftlich durchschnittlichen Arbeitsstunde geleistet wird (in dem Sinn ist der Wert mit dem Begriff der Energie in der Physik verwandt). Diese gesellschaftlich durchschnittliche Arbeitsstunde lässt sich nicht absolut messen, sondern zeigt sich in der Relation verschiedener Tauschwerte zueinander. Demgegenüber steht der Preis eines Produkts, der auf dem Wert basiert, aber unter Berücksichtigung der Gesamtheit der Markteinflüsse entsteht. Wenn ich in der Wikipedia lese, dass jemand versucht hat, eine mathematische Formel zur Berechnung des Preises aus dem Wert zu ermitteln (ich finde die Quelle gerade nicht), dann drängt sich mir der Eindruck auf, dass derjenige das Thema noch nicht ganz durchdrungen hat. Um den Preis aus dem Wert zu berechnen, bräuchte man eine Art Laplaceschen Dämons, der die Gesamtheit der Markteinflüsse für eine bestimmte Region parat hat. Und selbst das würde nichts nützen, weil ein Gutteil der Einflüsse irrational und flüchtig ist. Auch der Wert lässt sich schlecht bestimmen, weil die Komplexität unserer arbeitsteiligen Gesellschaft es fast unmöglich macht, die Gesamtheit der Arbeitszeit, die in einem Produkt steckt, genau zu ermitteln.

3 Man kann die Rolle der Gewerkschaften dabei nicht hoch genug einschätzen. Die Arbeiter haben von ihrem wenigen Geld noch Beträge abgezwackt, die in Streikkassen flossen. Damit wurde der Streik zu einem wirksamen Mittel zur Durchsetzung der Arbeitnehmerrechte. Heute haben die Gewerkschaften einen schlechten Ruf, in meinen Augen wesentlich schlechter, als sie es verdient hätten. Denn wenn es wirklich ums Eingemachte geht, sind sie oft die einzige Institution, die helfen kann. Lest Euch mal in dem verlinkten Kapitel aus dem „Kapital“ durch, wie die Gesetzgebung in England vorgab, arbeitende Menschen zu schützen und wie lange es dauerte, bis die gröbsten Missstände eingedämmt waren.

4 Die Kritik am „Gesetz des tendenziellen Falls der Profitrate“ setzt vor allem an dem Punkt an, ob das wirklich ein Gesetz ist, also zwingend aus der kapitalistischen Produktionsweise hervorgeht. Das ist im Kontext dieses Beitrags jedoch unerheblich. Mir reicht die empirische Beobachtung der technischen Entwicklung der Produktionsmittel seit den Zeiten von Karl Marx. Diese ist eine Tatsache und die von Marx beschriebenen Phänomene, wie z.B. die regelmäßigen Wirtschaftskrisen und die Konzentration der Unternehmen zu großen Konzernen, sind eingetreten. Die Verelendung der Arbeiterschaft ist in den Industrieländern nur deshalb nicht eingetreten, weil man sie in andere Länder externalisiert hat.

5 Werden bewaffnete Horden vom Westen unterstützt, heißen sie Rebellen, richten sie sich gegen den Westen, heißen sie Terroristen.

6 Warum die USA die Länder mit Sanktionen und Krieg überziehen, die versuchen, sich der Macht der Konzerne zu entziehen, und für ihre Bevölkerung eine ökonomische Verbesserung zu erzielen, ist ein Thema für einen eigenen Artikel. Die USA spielen die Rolle des Weltpolizisten nicht nur im „Spiel“ der Großmächte, sondern auch im Dienst des Wirtschaftsliberalismus.

7 Ich habe bisher vermieden, zu definieren, was Kommunismus überhaupt ist. Aber wir werden sehen, dass wir uns diese Definition zunächst sparen können, weil es bislang meiner Ansicht nach keine Realisierung des Kommunismus auf der Welt gegeben hat, auch wenn manches Land dies für sich beansprucht hat. Wir beschränken uns hier auf den Sozialismus als einer Übergangsform zwischen Kapitalismus und einem nicht näher definierten Gesellschaftssystem, das auf den Kapitalismus folgt. Dieses zeichnet sich im Wesentlichen durch das Ende der Mehrwertschöpfung aus.

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