Intensivbetten und Medienkompetenz

Donnerstag, 15.08.2024

Mirko Matytschak

Jemand hat mir einen Link auf ein Video zugeschickt, in dem es um die Auslastung von Intensivbetten seit Beginn der Corona-Epidemie geht. Das Video ist ein schönes Beispiel für ausgeübte  Medienkompetenz.

Das Video dauert nur zwei Minuten, und nennt sich „Pandemie in zwei Minuten“. Das zentrale Bild in diesem Video ist das folgende:

Auslastung Intensivbetten

Das Bild zeigt die prozentuale Auslastung der Intensivbetten im Zeitraum von 2020 bis heute. Darunter die gestrichelte Linie ist der prozentuale Anteil an Fällen mit positivem PCR-Test.

Man sieht in der gestrichelten Linie ein paar Hügel, die dem Verlauf der Covid-Wellen folgen. Der Urheber des Videos behauptet nun, dass die Hügel der Covid-Fälle zu entsprechenden Hügeln in der Kurve der Auslastung führen müssten.

An dieser Stelle muss ich reingrätschen und sagen: Das wäre nur dann der Fall, wenn die Anzahl der Intensivbetten über die Zeit konstant geblieben wäre. Die prozentuale Auslastung ist vielleicht nicht ganz der optimale Weg für die Argumentation des Herrn Homburg, der das Video produziert hat.

Eine betriebswirtschaftliche Erwägung

Mein Gedanke war, dass aufgrund der hohen Belastung durch die Covid-Fälle in den Intensivstationen die Anzahl der verfügbaren Betten aufgestockt worden sein könnte. Man hat dann zwar mehr Patienten auf Intensiv, aber die Auslastung bliebe konstant.

Versteht mich bitte nicht falsch. Ich halte das für eine normale betriebswirtschaftliche Erwägung der Kliniken. Die angestrebte Zahl von 90% Auslastung (die grüne Linie) ist ausreichend, um kurzfristigen Phänomenen zu begegnen. Niemand hat etwas davon, wenn wir nur 70% Auslastung auf den Intensivstationen haben und die PflegerInnen dort sich die Hintern beim Warten plattsitzen, während sie anderswo im Krankenhaus gebraucht werden könnten.

Erwartet man längerfristige Anstiege der Auslastung, wird die Anzahl an Intensivbetten aufgestockt, indem PflegerInnen zu diesen Betten verlegt werden. Mein Wissensstand war, dass es an Betten und Geräten nicht mangelt, aber das Personal sei knapp. Aber in der Not könnte man Personal verschieben.

Kurz: Man müsste bei der Anzahl der Betten, die für die Intensivstationen zur Verfügung stehen, in den Zeiträumen Hügel sehen, in denen der Anteil an Covid-Patienten auf den Intensivstationen zunimmt. Dann wäre die Argumentation von Herrn Homburg entkräftet.

Wo bekommt man die Zahlen her, die zeigen, wie viele Betten zur Verfügung stehen? Dafür gibt es ein zentrales Register, das DIVI. Dort gibt es das folgende Bild:

DIVI gemeldete Intensivbetten

Man sieht im oberen, blassgrünen Bereich, dass es tatsächlich eine Reserve gibt, aus der Intensivbetten geschaffen werden können.

Der Verlauf der Gesamtzahl an Betten, aus der die Auslastung berechnet wird, ist der obere Rand des blauen Bereichs. In den entsprechenden Zeiträumen gibt es keine Steigerung bei der Anzahl der Betten. Ganz im Gegenteil: Ihre Anzahl wird stark nach unten korrigiert.

Das hat mich schon 2021 beschäftigt. Damals kam ich zu dem Schluss, dass die Kliniken – warum auch immer – vor Corona mehr Betten gemeldet haben, als tatsächlich einsetzbar waren. Mit der beginnenden Epidemie wurde nochmal nachgezählt, wie viele von diesen Betten tatsächlich einsetzbar waren und die Zahl entsprechend nach unten korrigiert. Aber das ist nicht der Punkt, warum ich diesen Beitrag geschrieben habe.

Der Punkt ist: Man sieht keine Hügel, die dem Verlauf der Covid-Wellen folgen. Die Grafik zeigt im unteren Bereich ja dankenswerterweise die Anzahl der belegten Betten. Auch hier gibt es keine Hügel. Der Anstieg der Kurve am linken Rand kommt übrigens daher, dass damals das DIVI-Register eingeführt wurde1. Nach diesem initialen Anstieg ist der Verlauf der belegten Betten mehr oder weniger konstant, mit insgesamt leicht fallender Tendenz.

Was lernen wir aus dieser Überprüfung? Hat der Herr Homburg Recht? Ich würde gerne Eure Meinungen dazu hören.

Update 15.08.: Wow, das ging ja schnell. Das erste Argument traf ein: Es wurden bereits ab 16.03.2020 alle verschiebbaren planbaren Operationen verschoben. Da ein gewisser Prozentsatz der OPs Intensivbehandlung erfordert, war zumindest die erste Covid-Welle abgefedert.2

Update 28.08.: Es wurde die Frage gestellt, was genau an dem Artikel Medienkompetenz sein soll. Es sei doch offensichtlich kein Ergebnis dabei herausgekommen. Ich glaube, da liegt ein Missverständnis vor. Die Medienkompetenz liegt in der Überprüfung der Aussage. Die Überprüfung muss nicht notgedrungen in einer Widerlegung münden. Mein Gefühl sagte mir beim Anschauen des Videos, dass mit der Aussage von Herrn Homburg etwas nicht stimmt. Die Verwendung der relativen Zahlen (Auslastung in %) war tatsächlich ein ziemlich ungünstiger Ausgangspunkt und verstärkt dieses Gefühl. Aber ein Disput sollte sich nicht darin erschöpfen, dass man seinem Gefühl folgt. So ein Gefühl kann auch mal täuschen.

Die Überprüfung ergab nun: Die absoluten Zahlen verlaufen als Kurve relativ glatt. Wir hatten seit der Erfassung der DIVI-Zahlen ein paar Corona-Wellen. Es gibt nun Leute, die von einer katastrophalen Überfüllung der Intensivstatiionen während dieser Wellen sprachen, vor allem in der Winterwelle 2021/2022, als die „Pandemie der Ungeimpften“ ausgerufen wurde. Das müsste doch in irgendeiner Weise Auslenkungen in der Anzahl belegter Betten nach sich ziehen. Das können wir in den Zahlen nicht sehen. Das kann jetzt nun Gründe haben, wie die spontane Verschiebung „nicht notwendiger“ OPs. Aber dass die Kurve so dermaßen glatt ist, mit leicht sinkender Tendenz über die Zeit, das gibt zumindest keine Unterstützung für die Überüllungs-Aussagen her.

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1 Zitat: Seit dem 16. April 2020 sind alle intensivbettenführenden Krankenhäuser in Deutschland verpflichtet, täglich im DIVI-Intensivregister zu melden. Verlässliche und vollständige Daten stehen damit erst ab ca. Ende April 2020 zur Verfügung.

2 Es hat mich aufgrund des Arguments folgendes interessiert: Wenn OPs verschoben wurden, müssen die ja irgendwann nachgeholt worden sein. Wann war das, und kann man eine Welle der Auslastung der Intensivbetten aufgrund der Nachhol-OPs sehen? Einiges an Informationen können wir aus diesem Papier des BMG herauslesen. Dort steht, dass ab Anfang Mai 2020 schrittweise die OPs nachgeholt wurden. Die DIVI-Kurven geben für den Zeitraum nichts Verwertbares her, weil die erst ab Anfang Mai vollständig sind.

Merkwürdig ist auch die Aussage des BMG:

Durch die frühzeitige Aufforderung an die Kliniken [...] Aufnahmen und Operationen zu verschieben [...], war es gelungen, bis zu 50 % der Intensivbetten frei zu halten.

Man sieht an den DIVI-Zahlen ganz klar, dass Anfangs etwa 1/3 der Betten frei war. Danach steigt die Auslastung, indem die Zahl der verfügbaren Betten verringert wird. In einer Studie zu dem Thema kam man zu einer realistischeren Einschätzung:

Insgesamt kam es zur durchschnittlichen Reduktion der Betten- bzw. Operationskapazität um 38 ± 19 %

Reduktion heißt hier: Sie haben die Betten freigehalten. Das bezieht sich natürlich nicht nur auf Intensivbetten, sondern auf die Reduktion insgesamt.

Wenn es Anfang Mai eine Welle durch verschobene OPs gegeben hatte, müsste die also später nachlassen. Das kann man ebenfalls nicht erkennen. Das Argument der verschobenen OPs scheint mir daher gelinde gesagt nicht zwingend.

Kommentare

2 Kommentare zu diesem Beitrag

DIVX · 15.08.2024 · Direkter Link

Ob das was zu Deiner Frage beiträgt, weiß ich nicht, aber jede Welle hatte wohl ihre eigene Rate an Intensivfällen im Verhältnis zu den Neuinfektionen, die im Lauf der Zeit gesunken ist. Und für die erste Welle gibt es noch keine DIVI-Zahlen.

Das „Eskalations‑/Deeskalationskonzept zur COVID-19-bedingten Freihaltung von Intensivkapazitäten an Kliniken“ gibt Beispiele für die Berechnung. Zitat:

Auffällig ist die prozentuale Intensivpflichtigkeit der COVID-19-positiv Getesteten. Sie betrug Ende November in Deutschland 1,5 %, lag aber Mitte Mai bei 10,4 % deutschlandweit, in Baden-Württemberg bei 16,7 % und damit im Frühjahr über den in der Literatur angegebenen Wert von 4–8 %.

Sie berechneten die 1,5% Ende November so: Inzidenz 283/100.000, auf 83 Mio umgerechnet sind das 234.890 Neuinfektionen. 3770 waren zu dem Zeitpunkt auf Intensivstationen, daher ~1,6% Intensivrate, abgerundet 1,5%.

Der absolute Peak der Inzidenz betrug im Februar 2022 = 1714, das entspricht 1.422.620 Neuinfektionen. Bei 1,6% Intensivrate wären das 22.762 Intensivfälle allein durch Covid. Das war aber nicht der Fall. Am 15.02.22 hatten wir gesamt etwa 18.000 belegte Betten deutschlandweit, also mit und ohne Covid. Die Intensivrate muss also massiv gefallen sein. Das deckt sich mit der Aussage über die Omikron-Variante, die ja weniger gefährlich gewesen sein soll.

Jegliche Argumentation für oder wider Herrn Homburg würde über diese unterschiedlichen Intensivraten stolpern müssen.

 

Karli · 15.08.2024 · Direkter Link

Was immer mit dem Video von Herrn Homburg gesagt sein soll: Was die Frage "mit" vs. "durch" Covid anbetrifft, gibt es eine klare Aussage von Herrn Lauterbach.

Wir werden auch erstmalig besser unterscheiden können: Wer kommt wegen Covid ins Krankenhaus? Wer kommt mit Covid ins Krankenhaus? Wobei unterschieden wird, ob sich die Krankheit mit Covid verschlimmert und man vielleicht sogar an dieser Krankheit stirbt, welche aber ohne die Covid-Infektion nicht so tödlich verlaufen wäre, oder ob es eine Covid-Infektion ist, die sich auf den Krankheitsverlauf nicht auswirkt. Somit können wir tagesaktuell deutlich bessere Daten anbieten. Daran haben wir monatelang gearbeitet. Das ist viel zu spät gekommen. Das ist genau das, was uns im letzten Herbst gefehlt hat. Jetzt haben wir es über den Sommer vorbereitet. Wir werden es nutzen.

Die Rede ist vom 08.09.2022, will heißen: Vorher hatte man keine Zahlen dafür.