Warum passiert das nicht überall?

Samstag, 27.03.2021

Mirko Matytschak

Herr Drosten, der ja der Buhmann der Epidemie schlechthin ist, hat bereits Ende Oktober in einem Vortrag ein Konzept vorgestellt, wie man in der Pandemie vor die Welle kommt, statt hinter ihr herzulaufen. Warum wird das nicht schon gemacht?

Es gilt als gesichertes Wissen, dass eine der Komplikationen der Corona-Pandemie das Tempo ist, in dem sich das Virus verbreitet. Nach einer Infektion bleiben gerade mal zwei Tage, dann können wir schon weitere Personen anstecken.

Die Strategie, die vorsieht, die Pandemie in eine Containment-Phase zurückzutreiben, übersieht, dass wir in der Containment-Phase den positiven Fällen hinterhertesten, was sich jetzt bereits zweimal als zu langsam erwiesen hat.

Einen Weg aus diesem Dilemma zeigt Prof. Drosten in einem Vortrag auf, den er bereits Ende Oktober 2020 in Meppen gehalten hat. Der Link zeigt auf die Stelle im Vortrag, an der er das Konzept erläutert.

Wie kommen wir vor die Welle?

Der entscheidende Punkt an dem Konzept ist, dass Personen getestet werden können, die keinerlei Symptome haben. Ist von diesen Personen jemand positiv, lässt sich eine weitere Verbreitung des Virus verhindern, unabhängig davon, ob diese Personen Symptome bekommen oder nicht.

Man könnte sich jetzt fragen, warum das nicht schon auf breiter Basis durchgeführt wird. Soweit mir bekannt ist, gibt es überhaupt nur zwei Städte, die einen anderen Weg versuchen, als einfach nur alles zuzusperren. Rostock und Tübingen setzen dabei auf einen massiven Einsatz von Antigen-Tests.

Ich möchte an dieser Stelle den Vorwurf von Herrn Lauterbach erwähnen, dass die Inzidenzen trotz dieser Konzepte steigen. Auf den Vorwurf geht auch Frau Federle ein, die das Konzept für den Landkreis Tübingen durchführt.

Dort werden alle Personen, die in Läden, Lokale oder sonstige öffentlichen Einrichtungen gehen wollen, getestet. Nach dem Test erhalten sie ein Armband, wie es bei Konzerten oder Parties verwendet wird. Auf dem Armband ist ein QR-Code angebracht. Am Tag des Tests ermöglicht das Armband den Zugang zu allen Einrichtungen.

Von November bis Februar wurden dort bereits Tests für die Bürger angeboten, ohne eine explizite Freitestung. Sie haben in diesem Zeitraum 350 Personen herausgefiltert, die positiv waren, aber keine Symptome aufwiesen. Durch die Unterbrechung von Infektionsketten sprechen wir hier von ein paar Tausend Fällen, die dadurch verhindert wurden. Durch die Öffnung, die seit kurzem durch die Tests ermöglicht wird, steigt die Motivation, einen Test durchzuführen, immens.

Durch das vermehrte Testaufkommen steigen erst einmal die Inzidenzen an. Aber es ist klar, dass dadurch mehr Fälle erkannt werden, die anderswo als Dunkelziffer laufen. Auf Dauer führt dieses Konzept also zur Senkung der Inzidenzen. In ein paar Wochen werden wir mehr wissen, aber ich bin davon überzeugt, dass das besser funktioniert, als einfach nur zuzusperren.

Warum sind nicht mehr Städte und Landkreise zu diesem Experiment bereit? Laut Frau Federle ruft ja gefühlt halb Deutschland bei ihr an, um sich Tipps zu holen, wie sie das Konzept umsetzen können.

Man möchte meinen, dass die Politik das großflächig unterstützt. Dass es irgendwo Websites des Bundes oder der Länder gibt, auf denen die Grundzüge solcher Konzepte und ihrer Finanzierung beschrieben werden.

Frau Federle gibt uns hier nicht viel Hoffnung. Ganz im Gegenteil vermittelt sie das Bild, dass im zuständigen Sozialministerium niemand seinen Hintern auch nur um einen Millimeter bewegt, um dieses Konzept zu unterstützen.

Parteipolitische Taktik gegen Lösungen?

Wie kann das sein? Nun, Frau Federle ist Mitglied der CDU, der zuständige Minister Manfred Lucha ist von den Grünen. Das könnte also parteipolitische Gründe haben.

Lehnen wir uns kurz einmal zurück. Augenreiben. Kann es wirklich sein, dass die Lösung aller Probleme, nach der so verzweifelt gesucht wird, dass selbst die bescheuerte Idee eines "Ruhetags" vor Ostern beschlossen wurde, bevor sich alle Beteiligten der Reihe nach entschuldigt haben, dass die Lösung dieser Probleme wegen der Parteipolitik verhindert wird?

Nun ist es ja so, dass der politische Profiteur des Tübinger Modells Boris Palmer ist. Palmer ist ein Grüner. Es kann also durchaus sein, dass unionsgeführte Kreise und Städte lieber auf das Konzept verzichten, um den Grünen keinen Vorschub zu leisten. Aber was ist mit Herrn Lucha? Der könnte doch als Grüner davon profitieren?

Schon, aber Boris Palmer ist ja das Schmuddelkind der Grünen. Sogar ein Parteiausschluss war schon im Gespräch. Zugegeben: Herr Palmer hat bei mir mit -1000 Punkten angefangen, nachdem er die Äußerung über die Menschen, die ohnehin sterben, von sich gegeben hat. Aber mittlerweile hat er sich bereits auf 0 hochgearbeitet.

Einen Großteil der Punkte hat er dadurch eingefahren, dass ihm die Parteizugehörigkeit der Frau Federle egal war. Er hat die Chance gesehen, die in dem Konzept liegt, und hat zugegriffen. Das wird sicher nicht zu seinem Schaden gewesen sein und den Erfolg gönne ich ihm – wohlwissend, dass Frau Federle die Arbeit geleistet hat.

Bleibt ein grüner Sozialminister, der nicht einen Finger rührt, damit das Konzept auf breiterer Basis eingeführt wird. Soviel zum Thema, ob die Grünen eine Alternative für die Bundestagswahl 2021 sein könnten.

Und die restlichen Länder? Lautsprecher und leise Versager bei allen Parteien. Statt dessen gehen alle auf Nummer "sicher": Zusperren. Ich sage Euch was: Die kommenden Wahlen werden ein Desaster.

Update 27.03.

Zitat Karl Lauterbach:

An der Sicherheit der viel beschworenen Schnelltests gibt es inzwischen aber starke Zweifel. "Antigentests sind bei weitem nicht so sicher, wie man glaubt", sagte Lauterbach den Funke-Zeitungen. Studien zeigten: "Wenn jemand wirklich asymptomatisch ist, schlägt der Schnelltest in sechs von zehn positiven Fällen an. In vier von zehn Fällen ist der Test negativ."

Haben wir in den vergangenen Monaten all die Schwurbler kritisiert, die mit irgendwelchen Zahlen Bullshit-Argumente gegen die Corona-Vorsorge gestützt haben, so muss ich auch in diesem Fall klar einschreiten, wenn Bullshit-Argumente gegen die Modellversuche geäußert werden.

Es mag sein, dass im Vergleich der PCR-Tests mit Antigentests 40% der Tests bei Asymptomatischen nicht anschlagen. Herr Drosten beginnt seine Darstellung sogar mit dem Fakt, dass die Antigentests eine höhere Schwelle haben, bevor sie ansprechen.

Herr Drosten beschreibt, dass das mit der Viruslast zu tun hat und dass die Antigentests ihre Schwelle in dem Bereich haben, in dem die Viruslast so hoch ist, dass sie ansteckend wird, während die PCR-Tests eigentlich zu empfindlich sind. Auf gut Deutsch: Man kann positiv aber nicht ansteckend sein. Und diese Fälle interessieren uns nicht.

Damit ist nicht in Abrede gestellt, dass bei Antigentests der eine oder andere Fall durchrutschen kann, der doch ansteckend ist. Das ist ein statistisches Phänomen. Der Punkt ist, dass wir mit Hilfe der Antigentests mehr Personen entdecken sollten, die ansteckend sind, als uns Personen durchrutschen, weil der Test einmal nicht anschlägt.

Es ist möglich, abzuschätzen, wie viele von den 40% tatsächlich ansteckend sind. Dazu gibt es Zahlen (die Herr Drosten in dem Vortrag präsentiert) und die lassen erwarten, dass nur ein sehr geringer Prozentsatz der negativ getesteten auch ansteckend sind. Und sag mir keiner, dass das nicht so gemeint war. Herr Drosten spricht ganz klar vom Konzept des "Freitestens" durch Antigenschnelltests.

Es geht also nicht vorrangig um das Ziel, die Zahl der positiven Fälle zu senken, es geht um das Ziel, mehr Ansteckungsketten zu unterbrechen, als sie durch falsch negative Tests zusätzlich entstehen. Und selbst wenn die Zahl gleich wäre, wären die Modellversuche klar im Vorteil.

Wenn jetzt alles geschlossen und den Leuten gesagt wird: "Bleibt zu Hause", nimmt man den Menschen die Motivation, zu einem Antigen-Schnelltest zu gehen. Also braucht man zweierlei:

  1. Hürden abbauen, die Schnelltests im Weg stehen (zum Beispiel die Kostenfrage)
  2. Menschen motivieren, die Schnelltests in Anspruch zu nehmen (ratet mal, wie)

Der Vollständigkeit halber sei gesagt, dass Fälle, die heute unter der Schwelle der Antigentests liegen, morgen über der Schwelle liegen können. Daher das Konzept, dass die Tests nur am gleichen Tag gültig sein sollen.

Jetzt vergleicht das mal mit dem Konzept, dass ein PCR-Test 72 Stunden gültig sein soll, wenn man eine Flugreise antritt.

Kommentare

4 Kommentare zu diesem Beitrag

Thelonius Tezell-Antikörper · 27.03.2021 · Direkter Link

Ich finde, die parteipolitische Betrachtungsweise trifft nicht zu, zumal ja in BaWü schon eine Schwarz/Grüne Koalition regiert, die Zusammenarbeit in verschiedensten Konstellationen gibt es ja in den meisten Regierungen, und sie sitzen ja quasi in einem Boot, ein Versagen eines Koalitionspartners wird auch als Versagen der jeweils eigenen Partei angelastet. Diese Betrachtung ist höchst spekulativ und ich kann dem nicht folgen. Ja, es verstellt den Blick auf das Wesentliche.

Spätestens seit Oktober 2020 (eigentlich von Anbeginn der Pandemie, aber das ist ein anderes Thema, bleiben wir beim Beginn der zweiten Welle) eiern die Bundesregierung und alle Landesregierungen und auch der Herr Tübingen um die eigentlichen Fragen drum rum. Wer sind denn die Pandemietreiber?

https://www.gew-bayern.de/aktuelles/detailseite/neuigkeiten/gew-zu-corona-selbsttests-an-schulen/

Die GEW beschreibt, wie es gehen müsste, ein Zelt oder Pavillon vor der Schule um ausreichend Belüftung sicher zu stellen, hier können freiwillige Helfer und Eltern die Tests unterstützen und ggf. auf die Kinder gezielt zuzugehen, usw.

Ideen gibt es genug, aber der Apparat ist einfach zu starr, das ist nicht erträglich.

Zusammenfassend, der öffentliche Bereich wie Schulen und Behörden und die Wirtschaft müssen viel stärker im Fokus stehen, das Modell Tübingen wird es nicht alleine herausreißen, zeigt aber, dass man mit kreativen Ideen an die Bekämpfung der Pandemie herangehen muss. Ein gesamtheitliches Konzept mit einer klaren Struktur kann das Ruder noch herumreißen.

Nachtrag: So vorbildlich steht Tübingen womöglich nicht da, zumindest, wenn man genug Zeit hat, sollte man hier tiefer einsteigen und die Daten und Quellen ein wenig sichten und bewerten:

https://twitter.com/FrauStahlhut/status/1375881669916393476

Hier im Thread auch verlinkt ein recht interessantes Interview mit Sandra Müller SWR:

https://www.ardaudiothek.de/impuls-wissen-aktuell/corona-modellversuch-in-tuebingen-wissenschaftliche-begleitung-mangelhaft/87691120

In dem Thread wird teilweise auch Merkwürdiges behauptet, so vergleicht jemand die Todeszahlen des Landkreises Tübingen mit der Zahl der Toten in der Kreisfreien Stadt Köln, und stellt fest, dass in "Tübingen" die Zahl so viel höher sei.

Interessant ist möglicherweise der Hinweis auf die Bevölkerungsstruktur in TÜ: Universitätstadt, dadurch viele jüngere Einwohner, hohe HomeOffice-Quote, wie wirkt sich die auf das Corona-Geschehen aus. Auf jeden Fall sollte man vorsichtig sein, Tübingen vorbehaltlos über den grünen Klee zu loben, warten wir die Entwicklung ab...

Mirko Matytschak · 28.03.2021 · Direkter Link

Ich habe den Kommentar veröffentlicht, weil er einen wesentlichen Punkt enthält: Im Post ist nicht erwähnt, dass das Freitesten nur eins von mehreren Konzepten ist, die zusammenwirken müssen. Im Post geht es nicht nur um Tübingen, sondern um ein Konzept, das die Wissenschaft schon im September / Oktober vorgestellt hat, das aber bislang kaum umgesetzt wird.

Ich teile uneingeschränkt die Sicht auf Betriebe und Schulen als Pandemietreiber.

Der Kritik, dass die parteipolitische Betrachtung nicht zutrifft, kann ich nicht zustimmen. Wer jemals in Gremien gearbeitet hat, weiß, dass Ideen der anderen Seite torpediert werden, unabhängig davon, ob sie etwas taugen, oder nicht. Das Kernproblem in der Pandemie ist ja, dass nicht sachlich diskutiert wird. Der Herr Palmer ist Persona non Grata bei den Grünen, also will sich auch niemand mit seinen Ideen schmücken (die ironischerweise nicht seine sind). Das ist der Grund, warum ich Tübingen als Beispiel nenne. Nicht, weil ich die Leute dort so toll finde.

Was den Nachtrag im Kommentar anbetrifft, so kann ich ihn im Gesamten nicht stehen lassen. Natürlich wird von verschiedenen Seiten versucht, den Modellversuch im Kreis Tübingen schlecht zu reden, wobei die Verwechslung zwischen Stadt und Kreis ein beliebtes Mittel ist.

Da Tübingen noch nicht so lange das Freitesten zu Veranstaltungen erlaubt, kann es Stand heute noch gar keine Ergebnisse geben. Davor (November bis Februar) war das Konzept eingeschränkter, man hat für den Besuch von Alten- und Pflegeheimen freigetestet und für die Bürger kostenlose Schnelltests angeboten.

Wenn das neue Konzept funktioniert, müsste folgendes eintreten:

  1. Falls wesentlich mehr Personen getestet werden, müsste die Inzidenz steigen, die Letalität sinken
  2. Danach sollte eine geringere Regenerationsrate vorliegen, als im Durchschnitt der vergleichbaren Kreise, die das Modell nicht umsetzen. Ergibt sich keine Verbesserung, aber auch keine Verschlechterung, ist das Modell besser, weil es mit weniger wirtschaftlichen Schaden auskommt.

Wenn man sich dann auf den Kopf stellen und mit den Beinen wackeln muss, damit irgendein Nachteil des Konzepts dabei herausfällt, dann hat man im Prinzip schon das Konzept bestätigt.

Thelonius Tezell-Antikörper · 28.03.2021 · Direkter Link

Mir geht es nicht darum, das Modell Tübingen zu planieren, sondern eine andere Perspektive einzunehmen und meinen Standpunkt zu überprüfen. Möglicherweise nur für einen Moment. Um zu beurteilen, sind unser Herr Palmer und Frau Federle Dampfplauderer, und das Ganze ist reines Marketing, oder testen sie gerade ein erfolgsversprechendes Modell. In Zeiten von exponentiellem Wachstum von Corona-Talkshows stelle ich mir diese Frage.

Ein Problem ist, dass einige Diskutanten den Landkreis Tübingen betrachten, Herr Palmer und Co. die Stadt. Richtig, schreibe ich ja auch, das mündet schnell im Quatsch, siehe den Vergleich LK TÜ und Stadt Köln. Ist es aber grundsätzlich korrekt, die Daten so zu betrachten? Was passiert mit den Menschen, die aus dem Landkreis stammen und sich in der Stadt infizieren? Erfasst werden sie aber in den Zahlen für den Landkreis. Sind die daraus resultierenden Zahlen marginal oder erhöhen sie sich erheblich? Oder allgemein: Profiliert sich hier die Stadt Tübingen auf Kosten des Landkreises? Das Tübinger Modell umfasst noch andere Bausteine, diese eine Frage sei hier aber stellvertretend herausgegriffen.

Ich würde mir wünschen, dass sich das Modell Tübingen als Erfolg herausstellt, aber ich möchte keiner Corona-Blase aufsitzen, davon haben wir genug, mir scheint es noch zu früh, hier eindeutig Position für das T-Modell zu beziehen.

Mirko Matytschak · 28.03.2021 · Direkter Link

Da sind wir d'accord. Der Modellversuch ist wichtig, die Qualität muss sich verbessern und die Kritik daran sollte konstruktiver und sachlicher werden. Frau Stahlhut scheint mir die Planierung des Projekts im Sinn zu führen, und da habe ich was dagegen.