Noch ein Ungeheuer

Sonntag, 12.03.2017

Mirko Matytschak

Erschüttert steht die Öffentlichkeit dem Phänomen gegenüber, dass ein Jugendlicher ungerührt zwei Menschen töten konnte, aus anscheinend nichtigen Motiven. Was bislang in der Diskussion völlig fehlt, ist die Frage: Wie konnte es dazu kommen?

Vielleicht kommt das ja noch, dass die Presse im Vorleben des Täters herumwühlt, um so zu tun, als wolle man verstehen, welche Einflüsse im Vorleben des Marcel H. dazu geführt haben können, dass er zwei Menschen tötet, und das gestehen kann, ohne auch nur das geringste Anzeichen einer inneren Bewegung zu zeigen. In Wirklichkeit aber ist das Wühlen nur eine Art Befriedigung des langweiligen Leserlebens mit Details, die ein wenig zum Schaudern über so ein Monster führen.

Eine verständnisvolle Sicht wird man nicht erwarten können. Aus Sicht des Psychologen aber drängt sich das Stichwort "Negativsymptomatik" auf. Die Details will ich den Lesern ersparen, bis auf den Punkt, dass emotionale Verschlossenheit und Kälte vom Umfeld der Kinder an die Kinder weitergetragen wird. Marcel H. ist nicht als Monster geboren worden, sondern wurde geprägt.

Eine solche Sicht der Dinge, die sich nicht nur aufs Wegsperren und Bestrafen beschränkt, ist nicht opportun, weil darin immer eine Art Kritik steckt. Aber ich denke, das muss und kann eine lebendige Gesellschaft auch aushalten. Wenn sie es tut, eröffnen sich Möglichkeiten, die richtigen Fragen zu stellen.

  • Wenn Kinder in emotional kalten Elternhäusern aufwachsen – gibt es nicht Möglichkeiten der Früherkennung und Intervention?
  • Emotionale Unberührbarkeit wird als eine unabdingbare Eigenschaft erfolgreicher Menschen dargestellt. Ist nicht die ungerührte "Peanuts"-Mentalität, mit der eine gesellschaftliche Elite ihre Interessen durchsetzt und dabei Menschen in den Ruin schickt, ohne mit der Wimper zu zucken, ein Vorbild, zu dem Kinder hinerzogen werden?
  • Warum laufen die irrsten Gewaltszenen um 20:15 im Fernsehen? Filme mit sexuellen Handlungen werden doch auch auf Zeiten nach Mitternacht verschoben. Wird es nicht Zeit, diese Maßstäbe einmal zu überdenken?

Es geht nicht darum, die Darstellung von Gewalt zu verhindern, sondern dafür zu sorgen, dass sie nicht auf einen Boden emotionaler Kälte fällt. Menschen, die sich spüren können, entwickeln Empathie und können sich einen Krimi mit Gewaltszenen ansehen, ohne die gezeigten Handlungsmuster in ihr Alltagsleben zu integrieren.

Die Heilsformel, die uns vor solchen Monstern – und im übrigen auch gleich vor den politischen Monstern – bewahren kann, heißt Kontakt. Wie wäre es, in der Schule einen Fokus auf Übungen zu legen, die Kindern helfen, sich selbst zu spüren? Statt in den Kindern eine Mentalität anzulegen, die das Erreichen von Zielen über alle anderen Werte stellt? Was ich damit meine, ist hier skizziert.

Ich weiß, das ist alles nicht so einfach und schnell zu machen. Aber es scheint kaum einflussreiche Personen zu geben, die hier überhaupt einen Handlungsbedarf sehen. Es ist einfacher, Marcel H., Günter Bartsch, Hitler, Eichmann zu dämonisieren, statt sich der unbequemen Einsicht zu stellen, dass diese Phänomene auf dem Boden der durchschnittlichen emotionalen Kälte unserer Gesellschaft wachsen.

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