Wie der Brexit die demokratischen Werte retten hilft

Dienstag, 19.04.2016

Mirko Matytschak

Ganz Deutschland starrt auf die Türkei und seine beleidigte Leberwurst, die sich von einem drittklassigen Possenreißer in ihrer Ehre verletzt fühlt. Und erst die Meinungsfreiheit und Demokratie dort: furchtbar!!! Gottseidank ist die Türkei nicht Mitglied der EU!!! Was würde mit unseren demokratischen Werten geschehen?

Ja, unsere demokratischen Werte… Also da wäre zunächst einmal der Wortsinn "Regierung durch das Volk"* . Mit so einer Regierung ist nicht eine Schar elitärer Volksvertreter gemeint, die sich einen Dreck um die Sachverhalte scheren, über die Beschlüsse gefasst werden sollen, und denen die Fraktionsdisziplin und der Erhalt der Macht durch Beeinflussung von Stimmvieh das wichtigste Anliegen ist.

Mit Demokratie ist auch nicht gemeint, dass in irgendwelchen Hinterzimmern in Berlin und Brüssel die Lobbyisten mit den Abgeordneten zusammensitzen und ausklüngeln, wie sich unsere Gesellschaft profitabler gestalten lässt. Es ist auch damit nicht gemeint, dass die Volksvertreter es gewohnt sind, Zuwendungen dafür anzunehmen. Die dann natürlich nicht in Panama geparkt werden. Das ist Sache von Diktatoren und russischen Milliardären – so steht es zumindest in der Presse.

Wo wir gerade bei der Presse sind: Kann sich jemand an den Sozialkundeunterricht erinnern? Die Presse als vierte Gewalt? Die Kontrolle der drei Gewalten (Legislative, Exekutive, Judikative) durch die Presse? Was mich immer zu der Frage herausfordert, wer eigentlich die Presse kontrolliert?

Demokratie heißt: Die Liebe zum Wissen fördern

Die Grundidee der Demokratie ist die Regierung durch Philosophen, also Menschen, die das Wissen lieben. Das könnte man als elitäre Idee betrachten. Aber es lässt sich etwas daraus machen. Zum Beispiel eine Gesellschaft, in der allen Menschen die gleiche Chance gegeben wird, ihre Philosophie zu entwickeln – sei es als Ingenieure, Ärzte, Dichter, Denker, Maurer oder Altenpfleger.

Und ich meine damit die Erziehung zum selbständigen Denken. Nicht ein Studium mit dem Ziel, möglichst viel zum Profit unserer Konzerne beizutragen, was gerne als "Erhaltung der Wettbewerbsfähigkeit" bezeichnet wird.

Wenn es denn irgendeine Existenzberechtigung für Staaten gibt, dann liegt sie in der  Aufgabe, solch ein Klima der Philosophie – der Liebe zum Wissen – zu schaffen und zu fördern, damit die Menschen zum Wohle Aller fachlich fundiert die Belange unserer Gesellschaft diskutieren können. 

Die Meinungsvielfalt ist hierbei ein wesentliches Merkmal der Entscheidungsfindung. Die Presse sollte also nicht schreiben, es wird über ein Gesetzesvorhaben gestritten, sie sollte schreiben dass über ein Gesetzesvorhaben diskutiert wird. Unterschiedliche Standpunkte? Ja, gerne!

Ein Gesetz zur Unterdrückung der Philosophie

Ich denke, ich könnte breite Zustimmung erhalten, wenn ich behaupten würde, dass Staaten, die ein solches Klima der Philosophie unterdrücken, gegen die Werte der Demokratie handeln und daher in der Europäischen Union nichts verloren haben.

Wenn Ihr mir bis dahin zustimmt, dann kommt Ihr um die Befürwortung des Brexit nicht herum. Und im Übrigen des Ausstiegs Schottlands aus dem UK ebenfalls, um die demokratischen Werte der Schotten zu retten. Denn ab dem 1. Mai gilt im vereinigten Königreich ein Gesetz, das es Wissenschaftlern, die vom Staat bezahlt werden, untersagt, mit dem Wissen, das sie in ihrer Tätigkeit erlangt haben, für Änderungen von Gesetzen oder Verordnungen einzutreten. Zitat:

The proposal – announced by the Cabinet Office earlier this month – would block researchers who receive government grants from using their results to lobby for changes to laws or regulations.

Angenommen, ein Wissenschaftler in staatlichen Diensten findet heraus, dass Glyphosat Krebs erregt. Nach diesem Gesetz darf es nicht sagen, weil er damit in die Diskussion eingreifen würde, ob Glyphosat weitere 15 Jahre auf die Äcker und Wiesen geschüttet werden darf.

Die Meinungsbildung muss dann ohne wissenschaftliche Beiträge auskommen und wird komplett den Journalisten überlassen. Was dabei herauskommt, könnt Ihr hier nachlesen.

Wie der Mundtod bei uns funktioniert

Bevor Ihr nun sagt, dass es so etwas bei uns nicht geben kann, möchte ich darauf hinweisen, dass es andere Mittel gibt, Wissenschaftler mundtot zu machen. Wer zum Beispiel vor einigen Jahren behauptet hat, atomare Niedrigstrahlung beeinträchtige die Gesundheit, der hätte seinen wissenschaftlichen Ruf verspielt gehabt. Eine staatliche Stelle antreten? Undenkbar.

Wenn dann einmal diese Auslese nicht funktioniert, passieren Dinge, die Sie hier nachlesen können. Man hätte tatsächlich die gesamte Restauflage eines Buches aufgekauft, nur weil es Fotos von Anti-AKW-Demonstrationen enthielt.

Kehren wir vor der eigenen Tür

Bevor sich also noch einmal jemand über den Zustand der Demokratie in der Türkei auslässt (mit dem es nicht zum Besten steht), wäre es angeraten, zuerst die Verhältnisse in unserem eigenen Land zu realisieren. Und wenn wir dann einmal unverkennbar auf dem Weg zu einer philosophisch regierten Gesellschaft sind, können wir gerne anderen diesen Weg empfehlen. Ich denke, dieser Weg wird dann ohnehin so unwiderstehlich sein, dass die Menschen in der Türkei und anderswo ihn vehement für sich einfordern werden.

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* Ich vermeide hier bewusst den Begriff "Herrschaft".

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