Blutdruckhemmer für jeden

Dienstag, 19.01.2016

Mirko Matytschak

Eine US-Studie kommt zu dem Ergebnis, dass der Blutdruck stärker gesenkt werden sollte. Das ist gut für die Aktienkurse. Ist es auch gut für die Menschen?

Nachricht in n-tv: Wissenschaftler haben in einer sogenannten Metastudie 123 vergangene Studien ausgewertet und kommen zu dem Schluss, dass der Zielblutdruck der medikamentösen Einstellung von 140 auf 120 gesenkt werden sollte.

Zu hoher Blutdruck ist ein Risikofaktor für Herzinfarkte, Schlaganfälle und andere, nicht nur koronare Erkrankungen. Nach Angaben des Robert Koch-Instituts hat 1/3 der Erwachsenen in Deutschland Bluthochdruck und müsste medikamentös eingestellt werden, um die Risiken des Bluthochdrucks zu verringern. Nach Angaben der Hochdruckliga werden etwa 70% der Erkrankten behandelt, das sind ca. 15-20 Millionen Menschen.* An gleicher Stelle wird vor Bluthochdruck bei Kindern gewarnt.**

Alle Angaben beziehen sich auf den Zielwert 140 für den systolischen Blutdruck. Würde der Zielwert auf 120 abgesenkt werden, müssten wesentlich mehr Personen mit Blutdruckhemmern eingestellt werden.

Dieser Zielwert wird von vielen Medizinern offensichtlich sehr kritisch gesehen. Der Blutdruck schwankt um den eingestellten Wert und kann dadurch auch zu niedrig werden. Und dann darf nicht vergessen werden, dass Blutdruckhemmer Nebenwirkungen haben. Unter anderem werden Impotenz bzw. eine Herabsetzung des sexuellen Verlangens genannt. Und das ist besonders problematisch, wie sich noch zeigen wird.

Keine Diskussion über die Ursachen

Es ist interessant zu sehen, dass die eigentlichen Ursachen hohen Blutdrucks in der Diskussion nur am Rand auftauchen. Ich zitiere aus dem Artikel, der wiederum die Leiterin der Medizinischen Poliklinik der Charité in Berlin zitiert:

"Die primäre Hypertonie, die etwa 90 Prozent der Fälle ausmacht, geht auf genetische Komponenten und vor allem Lebensstilfaktoren zurück." Stress und überhöhter Salzkonsum zählen dazu, Übergewicht, Bewegungsmangel und eine fettreiche Ernährung.

Der Begriff Stress ist so eine Art Regenschirmbegriff für eine Summe an Erscheinungen, die näher betrachtet werden sollten. Der abstrakte Begriff Stress verdeckt nämlich vieles von der Lebensrealität, die sich gesundheitlich so fatal auswirkt.

Chronische Sympathikus-Steuerung

Die meisten Menschen in den Industrieländern leben in einer chronischen Sympathikus-Steuerung. Man kann sich das so vorstellen, dass die Reaktionslage des zentralen Nervensystems zwischen zwei Polen schwingt: Der Vagus- und der Sympathikus-Steuerung. Die Reaktionslage hängt vom Tagesrhythmus und von den Situationen ab, die wir gerade erleben. Bei der chronischen Sympathikus-Steuerung (Sympatikotonie) ist der Mittelpunkt, um den unsere Reaktionslage schwingt, in Richtung der Sympathikus-Steuerung verschoben.

Der Sympathikus sorgt dafür, dass die Muskulatur, die den Durchmesser der peripheren (= außen liegenden) Blutgefäße steuert, einen höheren Tonus hat (also mehr Spannung). Daher ist der Begriff "Sympathikotonie" für das Phänomen der chronischen Sympathikus-Steuerung sehr treffend. Durch den verringerten Durchmesser der peripheren Gefäße steigt der zentrale Blutdruck. Das ist die Aufgabe des Sympathikus in unserem Körper. Die Sympathikus-Reaktion unterstützt unsere Impulse zu Flucht und Verteidigung.

Daher ist es auch richtig, einen Zusammenhang zwischen beruflichem Stress und chronischer Sympathikus-Steuerung herzustellen: Durch die im Beruf typischen Situationen entstehen Impulse zu Flucht oder Verteidigung. Es wird Adrenalin ausgeschüttet, das aber nicht durch körperliche Reaktionen abgebaut werden kann. Das Adrenalin bleibt im Körper und hält den Blutdruck dauerhaft hoch.

Lust und Angst

Es kommt aber noch ein anderer wichtiger Faktor dazu: der Gegensatz von Lust und Angst. Ich kann das Thema nur ganz kurz anreißen:

Lust kann nur in der vagotonen Reaktionslage erlebt werden. Das Loslassen der Kontrolle, das von der höchsten Erregung in die tiefste Befriedigung führt, ist in einer sympathischen Reaktionslage unmöglich.

Angst wiederum ist untrennbar verbunden mit der sympathischen Steuerung. Das heißt: Wenn Menschen in Angst leben, verlieren sie die Fähigkeit zur lustvollen Befriedigung – nicht nur in der Sexualität, sondern auch in anderen Lebensbereichen. Es bleibt ein Stau zurück, der sich fatalerweise ebenfalls in sympathischen Reaktionen äußert. Das führt zu einer Spirale, die zur chronischen Sympathikotonie mit Bluthochdruck, Sexualstörungen und allen damit verbundenen Folgeerscheinungen führt.

Mehr zum Thema Lust/Angst-Gegensatz findet Ihr in diesem hervorragenden Buch.

Angst ist also eine direkte Ursache der Sympathikotonie. Aber sie gehört auch zu den Ursachen jenes Lebensstils, der seinerseits als ursächlich für Bluthochdruck gesehen wird:

  • Angst führt zu Bewegungsunlust und damit zu mangelnder Bewegung.
  • Die Kompensierung innerer Erregung durch Essen führt zu Übergewicht.

Erziehung zur Angst

Nun könnt Ihr folgenden Versuch unternehmen: Nehmt eine beliebige Gruppe Jugendlicher und fordert einzelne der Gruppe auf, sich vor der Gruppe zu exponieren. Lasst sie ein Lied singen oder einen Tanz vorführen.

Ihr werdet feststellen, dass sich ein Großteil der Jugendlichen sträubt. Sie haben Angst. Angst, etwas falsch zu machen, verlacht zu werden, zu versagen. Diese Angst entwickelt sich im Kleinkindalter und erfasst nach wenigen Jahren der Schule ein Großteil der Kinder.

Wie gezeigt, ist Angst die Hauptursache der Sympathikotonie, als deren Folge ein hoher Anteil der Erwachsenen in unserer Gesellschaft an hohem Blutdruck leidet.

Es geht also nicht in erster Linie darum, den Lebenswandel von erwachsenen Menschen mit Bluthochdruck zu ändern. Es geht darum, zu verhindern, dass er entsteht. Es geht darum, zu verhindern, dass Kinder und Jugendliche in Angst vor dem Versagen aufwachsen.

Im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit steht zur Zeit aber offensichtlich das Gegenteil: die Kinder so effektiv wie möglich zu einem leistungsorientierten, erfolgreichen Berufsleben zu erziehen (das wegen eben dieser Erziehung häufig nicht eintritt) und sie, überspitzt gesagt, wie eine Bio-Aktie zu behandeln. Hervorragend dargestellt wird das Problem und mögliche Lösungen im Film "Alphabet".

Die Kinder werden zu psychischen Verhaltensweisen trainiert, die dazu beitragen, dass berufliche Herausforderungen im Dysstress münden. Es fehlt an Ventilen für den körperlichen Ausdruck, es fehlt an Möglichkeiten zu Ruhe und Entspannung und es fehlt gänzlich an Konzepten, wie Kinder und Jugendliche ihr Tun lustvoller erleben können. 

Es mangelt an allem, was Menschen tun können, um der vagotonen Reaktionslage eine Chance zu geben.

Profit vs. Lust

Es beschäftigt sich niemand damit, wie sich Räume schaffen lassen, in denen Kinder und Jugendliche ihre Lust und ihr Geschlechtsleben entwickeln können. Im Gegenteil: Wer einen solchen Gedanken ausspricht, muss sich auf heftige Angriffe gefasst machen. Dabei stolpern die jungen Menschen nach wie vor unvorbereitet in ihr Geschlechtsleben, mit allen fatalen Folgen für ihre psychische und körperliche Gesundheit und das Zusammenleben der Menschen in der Gesellschaft.

Sexuelle Revolution? Ich kann sie nicht sehen. Schamgefühle, Tabuisierung und Regression der Sexualentwicklung führen zu einer unverminderten Missbrauchsquote in der Gesellschaft, ganz abgesehen von der Lustfeindlichkeit derjenigen, die sich mit ihrer verkrüppelten Sexualität abfinden. Diese finden dann religiöse Bräuche wichtiger, als die körperliche Unversehrtheit der Genitalien von Säuglingen und Kleinkindern: Der Bundestag billigte per Gesetz die sadistische Quälerei an Kindern, die sich Beschneidung nennt, und gibt als Maßgabe vor, dass "keine unnötigen Schmerzen" entstehen sollen. Was bitteschön ist an einer Beschneidung unter Schmerzen "nötig"? 434 von 580 anwesenden Abgeordneten stimmten für diesen Wahnsinn. Es gab nur 100 Gegenstimmen.

Allgegenwärtiger Missbrauch und Beschneidung sind nur zwei Beispiele, anhand derer klar wird, dass wir es mit einem gravierenden gesellschaftlichen Problem zu tun haben, das praktisch alle Menschen betrifft.

Zurück zum Ausgangspunkt: Die Gabe von Blutdruckhemmern hemmt das Sexualleben der betroffenen Personen. Deshalb wird die freizügige Verschreibung von Blutdruckhemmern von der Sexualmedizin durchaus kritisch gesehen. Sie verschlimmern die Ausgangslage und führen zu einem Teufelskreislauf, sodass die Verschreibung oft mit den Worten begleitet wird: "Das müssen Sie jetzt für den Rest Ihres Lebens nehmen". Gibt es für die Hersteller ein besseres Geschäftsmodell?

Der Zusammenhang zwischen Sympathikus-Steuerung und Bluthochdruck ist eine medizinische Trivialität. Auch der Lust/Angst-Gegensatz und seine Auswirkungen auf die Reaktionslage des autonomen Nervensystems ist leicht nachvollziehbar und sollte eigentlich keinem Mediziner erklärt werden müssen.

Aber die Mediziner, die jene Metastudie durchgeführt haben, sehen andere Ziele vor ihren Augen. Sie werden für das Resultat ihrer Studie nicht zu knapp bezahlt. Das von ihren Auftraggebern gewünschte Resultat ist eine Diskussion, die von "den Märkten" mit steigenden Aktienkursen für die Hersteller von Blutdruckhemmern belohnt wird.

Wer würde sich da noch mit Risiken und Nebenwirkungen beschäftigen wollen? Oder gar mit Prophylaxe?

Update:

Bei dem n-tv-Artikel handelt es sich mit hoher Wahrscheinlichkeit um einen Public Relations-Text. Die Hersteller veranlassen eine Studie, dann schieben sie über eine Agentur eine Pressemeldung hinterher, die wird von der dpa verbreitet und dann erscheint der Text praktisch wortgleich in der WELT.

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* Zitat: 20-30 Mio. Bundesbürger haben Bluthochdruck, 4/5 [der Erkrankten] wissen inzwischen von Ihrer Erkrankung, 88% der Betroffenen, die davon wissen, lassen sich behandeln.

** Hinweis: Hinter Vereinen für Betroffene von Erkrankungen stehen häufig Hersteller der Pharma-Industrie.

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