Hamas-Überfall: Wem meine Solidarität gilt

Sonntag, 22.10.2023

Mirko Matytschak

Der Überfall der Hamas auf Israel ist nicht nur ein „barbarischer Akt des Terrorismus“ als der er landauf, landab bezeichnet wird, sondern vor allem der Missbrauch der Macht durch Hardliner mit unterirdischem Intelligenzquotienten. Die gegenwärtige Lage der Welt zeichnet sich dadurch aus, dass genau solche Leute überall an die Regierungsgewalt gelangen.

Es ist nicht nur eine Propagandafloskel, dass dieser Überfall als Terrorismus bezeichnet wird. Es ist Terrorismus. Das ist kein militärischer Kampf gegen militärische Truppen oder die Polizei der Besatzer, es ist der Kampf gegen beliebige Personen des zivilen Lebens.

Und es ist für die Sache der Palästinenser die größtmögliche Dummheit, die man hätte begehen können. Israels Verhalten in den letzten Jahrzehnten ließ erwarten, dass das israelische Militär grausam Rache nehmen wird. Man kann sich von Seiten der Hamas-Führung jetzt nicht aufs Winseln zurückziehen, dass hier ein Krieg gegen die Zivilbevölkerung im Gazastreifen geführt wird, der bislang bereits ähnlich viele Tote wie auf israelischer Seite verursacht hat, und der noch mehr Opfer kosten wird.

Es ist offenkundig, dass genau dieser Krieg gegen die Bevölkerung in Gaza zum Kalkül der Scharfmacher in der Hamas gehört hat und diese Opfer wissentlich in Kauf genommen wurden, weil… ja… wozu eigentlich?

Eine Lösung des Konflikts ist nicht erwünscht

Ich weiß aus eigener Erfahrung, dass es auf beiden Seiten Menschen gibt, die diesen Konflikt endlich beenden wollen. Die Lösung liegt seit einem halben Jahrhundert vor1. Sie heißt Zweistaatenlösung, und ob das eine gute Lösung für Palästina ist, hängt davon ab, was man daraus macht und vor allem, wie gut das Verhältnis zum übermächtigen Nachbarn Israel sein wird. Diese Lösung wird von Scharfmachern von beiden Seiten seit ebenso vielen Jahren torpediert.

Es gab eine kurze Zeit der Hoffnung, als durch Verhandlungen von Jitzchak Rabin und Yassir Arafat ein Friedensprozess in Gang kam, der die Zweistaatenlösung in greifbare Nähe rückte. Wie wir wissen, wurde Rabin von einem religiösen Fanatiker umgebracht, dem der sich abzeichnende Frieden ein Dorn im Auge war. Danach kam nie wieder eine Regierung in Israel zustande, die diesen Prozess ernsthaft unterstützt hätte. Auch in Palästina drehte sich der Wind und durch den Wahlsieg der Hamas in Gaza 2006 gab es einen starken Gegenspieler zu den Kräften in der Fatah, die noch an einer Friedenslösung interessiert waren.

Aber das Problem, mit dem wir es zu tun haben, ist, dass die Bevölkerung selbst die Scharfmacher in die Regierung hievt, deren Regierungsprogramm die Unnachgiebigkeit und Unversöhnlichkeit ist, die geradezu damit werben, dass sie den Konflikt nicht lösen, sondern im Gegenteil konservieren wollen. Sie ziehen eine kranke Art nationaler Identität aus dem Konflikt, für die der Frieden eine Bedrohung darstellt.

Sie ziehen eine kranke Art nationaler Identität aus dem Konflikt, für die der Frieden eine Bedrohung darstellt.

Das Problem sind die Menschen, die einer solch krankhaften Idee den Vorzug vor dem Frieden geben, der eigentlich einen positiveren Einfluss auf ihre konkrete Lebenssituation nehmen könnte, als der Konflikt, an dem nur die Rüstungshersteller und Waffenhändler verdienen.

Die Ideologie der Unversöhnlichkeit hat sich auf beiden Seiten in den Köpfen der Menschen festgesetzt, und wie bei uns mit der Ideologie des Neoliberalismus gibt es auch dort Verbindungen zwischen der Politik und den Medien, die bestimmte Ideen durch ständige Wiederholung zementieren. Die Ideologie der Unversöhnlichkeit entmenschlicht die Menschen der anderen Seite, damit man sie besser hassen kann. Sie stempelt diejenigen, die für Gespräche und Versöhnung bereit sind, als naive Idioten ab, denen das eigene Land nicht wichtig ist.

Solidarität mit einer Partei ist zu kurz gesprungen

Wenn man sich das klarmacht, dann stellt sich heraus, dass die Formeln „Solidarität mit Israel“ oder „Solidarität mit Palästina“ zu kurz gesprungen sind. Solche Formeln sind etwas für Leute, für die Nachdenken ein Fremdwort ist. Die Tatsache, dass in Deutschland so viele Menschen mit einer dieser beiden Formeln in die Öffentlichkeit gehen, zeigt einen verheerenden Zustand der Geistesverfassung in unserer Bevölkerung und im übrigen weltweit.2

Es macht mich immer misstrauisch, wenn von Personen Bekenntnisse verlangt werden, sich gegen oder gar für eine Konfliktpartei auszusprechen. So auch in diesem Fall, in dem Äußerungen pro Palästina zum Skandal gemacht werden, während Äußerungen der Solidarität mit Israel wohlgelitten sind, obwohl dessen Regierungen seit Jahrzehnten eine Friedenslösung blockieren, indem sie massenhaft israelische Siedlungen auf den verbliebenen Gebieten der Palästinenser bauen und damit unumkehrbare Tatsachen schaffen. Oder, wie es Oxford-Professor Avi Shleim im Guardian auf den Punkt bringt:

Land-grabbing and peace-making are simply incompatible. Israel had a choice and it chose land over peace.

Überlegt Euch einmal kurz, was man mit den Siedlern machen soll, wenn tatsächlich eine Zweistaatenlösung beschlossen würde. Die müssten entweder unter der Verwaltung der Palästinenser leben oder nach Israel zurückkehren. Mit den Siedlungen hat man elegant eine weitere Hürde gegen eine Lösung des Konflikts geschaffen, mit den Siedlern als Verhandlungsmasse3.

Die Koalition der Hardliner

Wir haben also eine seltsame Koalition der Hardliner auf beiden Seiten, für die der Frieden die größtmögliche Bedrohung darstellt. Und diese Koalition hat gegenwärtig das Sagen in der Region, auf beiden Seiten. Ihr fragt Euch jetzt vielleicht, warum ich just den Begriff Koalition verwende. Aber tatsächlich ist den Unversöhnlichen die Unversöhnlichkeit der anderen Seite immer noch das beste Argument, sodass Scott Ritter, seinerzeit UN-Waffeninspekteur im Irak, der viel mit israelischen Geheimdienstleuten zu tun hatte, folgendes berichten kann:

Benjamin Netanyahu had ordered the murder of Khaled Mashal, my host told me.
“That’s to be expected,” I replied.
“Is it?” my host asked. “Do you know that Hamas was created by Israel?”

Es ging um die Ermordung des Hamas-Führers Khaled Mashal durch den israelischen Geheimdienst und der Gastgeber (Host) war ein Mitarbeiter von ebendiesem. Aber was sagt der da? Die Hamas als Kreation Israels?4 Indirekt könnte man das verstehen, aber hier geht es um direkte Unterstützung der Hamas mit einer klaren Absicht:

And now I was being told that Israel had a hand in the creation of Hamas. The intent, my host told me, was to create a political divide within the Palestinian political leadership, and to dilute the power and influence of Yassar Arafat’s Fatah organization. In this, they had apparently succeeded.

dt: Und nun wurde mir gesagt, dass Israel an der Gründung der Hamas beteiligt war. Die Absicht, sagte mir mein Gastgeber, war es, politische Uneinigkeit in der palestinensischen Führung zu schaffen, und damit die Macht und den Einfluss von Yassir Arafats Fatah-Organisation zu verdünnen. Damit hatten sie Erfolg.

Man sollte ein solches Gebaren im Hinterkopf haben, wenn aus Kreisen der Regierung verlautbart wird, dass man mit bestimmten Personen und bestimmten Ländern nicht reden könne. Die Eskalation von Konflikten gehört zum Repertoire der Politiker, um sich an die Macht zu bringen und an der Macht zu halten. Reden mit der anderen Seite steht nur dann auf dem Programm, wenn es nicht dem Frieden dient.

Überall in Europa und auf der Welt scharen die Politiker, die mit dem eisernen Besen auskehren wollen – innen- wie außenpolitisch – eine steigende Anzahl Menschen um sich. Das Ergebnis könnt Ihr alle in Nahost oder in der Ukraine bestaunen.

Meine Solidarität gilt den Menschen auf allen Seiten der Konflikte, die darunter leiden müssen.

__________

1 Die Resolution 3236 der UN vom 22.11.1974 legt das Recht der Palästinenser auf nationale Unabhängigkeit und Souveränität fest.

2 Wer wissen will, wie man sich das erklären kann, dem kann ich ein kleines Büchlein empfehlen. Eine kostenlose Version des Textes finden Sie hier, ironischerweise als archivierte Kopie, die von Kräften der radikalen Linken veröffentlicht wurde. Das schmälert jedoch nicht die Bedeutung des Textes. Der zugrundeliegende Mechanismus der charakterlichen Panzerung wird hier wissenschaftlich betrachtet. Die Version des Buches von 1933 findet sich zur kostenlosen Lektüre im Internet Archive.

3 Die Siedler sind natürlich nicht nur die Opfer, sondern Teil des Problems. Sie sind sich sehr bewusst, was sie hier tun und welche Gefahren damit verbunden sind. Das kann man nur mit Menschen machen, die sich über eine gewisse Stumpfheit in den Empfindungen auszeichnen. Tragischerweise gibt es davon genügend auf der Welt.

4 Das ist eine massive Anschuldigung, die auf Aussagen einen anonymen Gastgebers von Scott Ritter beruht. Die Erzählung Ritters vermittelt einen Eindruck von der sehr engen Zusammenarbeit mit israelischen Geheimdienstkreisen, sodass eine solche Äußerung durchaus im Bereich des Möglichen liegt.

Eine zweite Quelle, die von der Finanzierung der Hamas durch Israel spricht, findet sich hier. Aus meiner Sicht ist es gar nicht so bedeutsam, ob diese Anschuldigungen wahr sind oder nicht. In meinem Beitrag geht es um die „Koalition“ der Scharfmacher in dem Sinn, dass die Handlungen der jeweils anderen Seite die eigenen Handlungen legitimieren. Würde eine Seite mit der Gewaltspirale aufhören, hätte die andere Seite Erklärungsnöte.

Scott Ritter sieht das so ähnlich:

For four decades now, the Israeli-Hamas collusion has run its tragic course, each side proclaiming its desire to destroy the other, and yet each side knowing the awful truth—that one cannot exist without the other.
dt: Seit nunmehr vier Jahrzehnten nimmt die Absprache zwischen Israel und der Hamas ihren tragischen Verlauf, wobei jede Seite die andere zerstören will, und doch beide Seiten die schreckliche Wahrheit kennen – dass beide nicht ohne die anderen existieren können.

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