Dichtmachen!

Sonntag, 25.04.2021

Mirko Matytschak

Es schwappt gerade die Entrüstungswelle gegen die Initative #allesdichtmachen durch die digitale Presse. Unabhängig davon, was uns die Initiatoren der Aktion nun tatsächlich zu sagen haben, und ob man nicht eine kritische Haltung dazu einnehmen könnte, sind die meisten Reaktionen auf die Initiative schlicht unerträglich.

Fangen wir mal beim Totschlagargument Nummer 1 an, nämlich, dass die falschen Leute applaudieren:

Mit Gaga-Videos und einer Kampagne unter dem Motto "#allesdichtmachen" wollen rund 50 Schauspieler die Corona-Maßnahmen ironisch kritisieren. Dass sie damit "Querdenkern", Rechtspopulisten und Aluhüten in die Hände spielen, sehen sie nicht. Naiver geht es kaum.

Auch hier das Gleiche:

Das Erschreckende ist: Die Popularität der Aktionsteilnehmer sorgt automatisch für tosenden Applaus von rechts außen. „In Deutschland gibt es tatsächlich noch regierungskritische Satire“, staunt „Tichys Einblick“. Die AfD schert in den Jubelgesang ein.

Argumente dieser Art haben mich schon lange vor Corona zum Strahlkotzen gebracht, und das hat sich auch in dieser Angelegenheit nicht geändert. Für alle, die es noch nicht begriffen haben, hier zum Mitschreiben:

Wenn ich eine Meinung äußere, ist es verdammt noch mal nicht meine Verantwortung, wer diese Meinung für sich beanspruchen könnte.

Das ist der zweite Hauptsatz der Meinungsfreiheit. Daran ändert sich auch dann nichts, wenn meine Meinung sich vielleicht als nicht fundiert herausstellen sollte.

Ich fordere daher, dass jeder, der auf diese Art Kritik an Meinungsäußerungen übt, auf Lebenszeit von allen öffentlichen Diskussionen ausgeschlossen wird!!1!

Verhöhnung der Opfer durch Spitzenverdiener

Dann kommt das „Argument“, die Aktion sei eine Verhöhnung der Corona-Opfer, oder der Ärzte, PflegerInnen und des Personals in den Intensivstationen der Krankenhäuser, die jetzt ihre letzten Kräfte mobilisieren, um mit den gestiegenen Intensiv-Fällen der dritten Welle schritthalten zu können.

Ich weiß nicht, auf welchem Planeten diese Leute leben. Irgendwie scheinen die alle vergessen zu haben, dass nach Jahrzehnten des Privatisierens und Sparens im Gesundheitssystem die personelle Unterversorgung in den Krankenhäusern Methode hat. Die lernt man im ersten Semester der Wirtschaftswissenschaft: Weniger Leute machen mehr Arbeit, und das ist gut für die Aktionäre. Wer verhöhnt hier also wen?

Weitere Kritiker warten mit Aussagen der Art auf, dass Schauspieler, die an dieser Aktion teilgenommen haben, wie zum Beispiel der Herr Liefers, doch zur privilegierten Schicht der Bevölkerung gehören und sich eigentlich keine Sorgen um ihr Einkommen machen müssen. Die sind ja gar nicht betroffen! Zitat:

Das nicht zu sehen, zeigt die Selbstvergessenheit dieser Spitzenverdiener, die auf Plastiktüten verzichten, gegen den Kapitalismus wettern, mit einem einzigen "Tatort" so viel Geld verdienen wie eine Supermarkt-Kassiererin in vielen Jahren und ansonsten das Leben in der Eigentumswohnung oder dem Haus auf dem Land genießen.

Das ist eine Neiddiskussion aus der untersten Schublade. Sie zeugt außerdem von einem akuten Mangel an Vorstellungskraft. Zum Beispiel dafür, dass es im Land jede Menge an kleinen Bühnen und Theatern gibt, wo diejenigen, die es nicht ins Fernsehen geschafft haben, schon in guten Zeiten ein karges Einkommen fristen und nun seit einem Jahr ohne Mittel dastehen.

Hat hier jemand „Corona-Hilfen“ gesagt? Diejenigen, die die Hilfen beantragt haben, werden auch noch mit Betrugsverfahren sekkiert.

Hat irgendjemand in diesem Land noch genug Vorstellungsvermögen für die Annahme, dass es den prominenteren Teilnehmern der Aktion nicht nur um sich selbst gegangen sein könnte? Dass Sie ihre Bekanntheit in die Waagschale geworfen haben könnten, um die Stimme für diejenigen Schauspieler und Musiker zu erheben, die sich selbst nicht Gehör verschaffen können?

Habt Ihr denn einen Vorschlag?

Es wird kritisiert, dass #allesdichtmachen keine Lösungen vorschlägt. Müssen die das? Angeblich sei die ganze Aktion, nachdem die Rechten applaudiert haben, ganz schnell mit Kapitalismuskritik übertüncht worden:

Bitter ist der Populismus hinter der Unterstellung, die Politik ziehe die bösen Ausbeuter der Bevölkerung vor, als würde sich die Bundesrepublik nicht gerade in nie gekanntem Ausmaß verschulden, um soziale Härten abzufedern… Ob das immer gut gelingt, ist eine andere Frage. Aber der Staat versucht es. Wer sollte all das bezahlen, wenn die Wirtschaft komplett zusammenbräche?

Ja, Freunde der gepflegten Kulturkritik, jetzt müsst Ihr aber schon mal sagen, was denn Eurer Meinung nach die Lösung ist, die Ihr bei #allesdichtmachen vermisst. Noch 10 Jahre alle Bühnen, alle Messen, alle Stadien geschlossen halten, weil die 42te Mutation von SARS-Cov-2 mit der Lufthansa eingeflogen kommt?

Eine Lösung wäre doch gewesen, 1-2 Monate alles dicht zu machen, mit der Betonung auf alles. Ja, explizit auch die Autoindustrie und was Euch sonst noch so an „systemrelevanten“ Branchen einfällt, die angeblich unsere Corona-Hilfen finanzieren. Natürlich flankiert von intelligenten Konzepten, wie wir die Grundversorgung aufrecht erhalten können, ohne dass sich gleich Masseninfektionen bei der Fleischproduktion ergeben. Wir hätten die Inzidenz auf 0 senken können und dann wäre der Spuk zu Ende gewesen.*

China hat das geschafft, verhungert ist dabei keiner. Die haben eine Millionenstadt abgeriegelt, wegen ein paar wenigen Corona-Fällen. Die haben aber nicht nur zugesperrt. Die haben innerhalb von zwei Tagen 4,9 Millionen Menschen getestet.

Aber bestimmt ist das alles gar nicht wahr. Bestimmt bin ich hier der Propaganda der kommunistischen Führung aufgesessen, die unsere Politiker völlig unverschuldet wie Versager aussehen lässt.

Anmerkung 29.11.2022: Das sehe ich heute anders. China bekommt das Problem nicht in Griff. Nach meinem Dafürhalten würde China besser fahren, die relativ harmlosen Varianten des Virus, die zur Zeit kursieren, nicht so brutal einzudämmen. Das Ziel ist letztlich eine solide Immunisierung durch ein, zwei überstandene Infektionen.

Jetzt seid Ihr dran!

Aber jetzt seid Ihr dran. Was sind denn Eure Lösungen? Glaubt hierzulande tatsächlich jemand ernsthaft, dass eine bundesweite Ausganssperre in der Nacht einen wesentlichen Beitrag zur Lösung der Situation leisten wird? Dass es etwas bringen soll, wenn die Polizei hinter jungen Leuten herhetzt, die sich irgendwo im Park getroffen haben, damit die gleichen Leute sich später heimlich in Zimmern treffen? Gibt es irgendwo belastbare Zahlen, die zeigen, dass das Schließen des Einzelhandels irgendetwas bringt? Ist nach einem Jahr Pandemie die Reduzierung der Kontaktwahrscheinlichkeit im privaten Sektor die einzig denkbare Lösung?

Und gleichzeitig wird das ach so verhasste Modellprojekt in Tübingen per Bundesgesetz beendet. Findige Köpfe haben herausgefunden, dass auch dort die Inzidenzen gestiegen sind. Nicht hinzugefügt haben sie, dass der Kreis Tübingen seit Wochen regelmäßig unter dem Bundesschnitt liegt**. Keine Ahnung, ob das am Modellprojekt liegt. Das ist auch nicht relevant. Relevant ist, dass die Situation nicht schlechter als anderswo ist.

Stand jetzt liegen sie dort knapp unter der 200er-Marke. Nehmen wir einmal beliebige Landkreise in Bayern zum Vergleich. Der Kreis Landshut, in dem ich wohne, steht gerade bei 256. Mit einem kleinen Unterschied: In Tübingen hatte bislang der Einzelhandel offen. Man konnte im Café sitzen und sogar ins Theater gehen. Leider wird man nicht herausfinden, wie sich das Modell in einem dauerhaften Vergleich schlägt, weil es schlichtweg dicht gemacht ist. (Hat hier jemand #dichtmachen gesagt?)

Drohung mit Berufsverbot

Die angeblich mangelnde Glaubwürdigkeit der Aktion #allesdichtmachen wurde von den Kritikern auch durch die Tatsache untermauert, dass gleich nach dem Start einige Teilnehmer ihre Videos wieder zurückgezogen haben.

Hintergrund dieser Rückzüge dürfte weniger der Applaus von der falschen Seite, als vielmehr der Tweet des SPD-Politikers und WDR-Rundfunkrats Garrelt Duin sein:

„Durch ihre undifferenzierte Kritik an 'den Medien' und demokratisch legitimierten Entscheidungen von Parlament und Regierung, leisten sie denen Vorschub, die gerade auch den öffentlich-rechtlichen Sendern gerne den Garaus machen wollen … Sie haben sich daher als deren Repräsentanten unmöglich gemacht. Die zuständigen Gremien müssen die Zusammenarbeit – auch aus Solidarität mit denen, die wirklich unter Corona und den Folgen leiden – schnellstens beenden.“

Das ist knallharter Druck auf die Schauspieler, ihre Meinung öffentlich zurückzuziehen, weil ihnen sonst der berufliche Ruin ins Haus steht. Ich dachte, dass mir dieser Vergleich nie über die Lippen kommen würde, aber das ist exakt die Art und Weise, wie Meinungsbildung in der DDR funktioniert hat.

Da hilft es auch nichts, dass der Herr Duin seine Drohung gleich wieder zurückgezogen hat. Ich gebe ihm vollumfänglich recht, wenn er sagt:

Der Tweet heute Morgen war Mist.

Aber zurückrudern hilft hier nichts mehr, denn das Kind ist schon im Brunnen: Er hat es mit einer unverhohlenen Drohung geschafft, dass Menschen ihre Meinung zurückgezogen haben. Daher fordere ich: Die zuständigen Gremien müssen die Zusammenarbeit mit dem Herrn Duin im Rundfunkrat wegen akuter Gefährdung der Demokratie schnellstens beenden.

Nachtrag

Ich habe mich gar nicht zu den Clips selbst geäußert. Sie sind Kunst und Kunst ist Geschmackssache. Der eine oder andere trifft den Nagel auf den Kopf, andere wiederum sind so na ja – aus meiner Sicht. Das könnt Ihr anders sehen und das ist auch gut so.

Im Übrigen distanziere ich mich von allen Äußerungen, in denen gefordert wird, dass jemand von Diskussionen ausgeschlossen werden soll. Und noch mehr distanziere ich mich von Forderungen, dass jemand wegen einer Meinungsäußerung seinen Job verlieren sollte. Es sei denn, die Meinungsäußerung lässt erkennen, dass die betreffende Person fachlich völlig ungeeignet für den Job ist.

__________

* An dieser Aussage gibt es berechtigte Kritik. Selbst wenn wir alles richtig gemacht hätten, und unsere Inzidenz auf 0 gesenkt hätten, könnten wir uns als Land in der Mitte Europas nicht dauerhaft abschotten. Das Virus würde immer wieder von außen hereingetragen. Eine Lösung muss auch dieser Tatsache gerecht werden.

** Die extrahierten Zahlen der Stadt Tübingen sind im Übrigen kein seriöser Maßstab.

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