Heiligenfeld 2018 - Kairos
Freitag, 08.06.2018
Ich bin dieses Jahr wieder auf dem Heiligenfeldkongress, der unter dem Titel Kairos - den Wandel gestalten stattfindet. Ich habe mir vorgenommen, dass ich meine Gedanken und Eindrücke, die auf diesem Kongress enstehen, hier schildere. Das hilft mir, das Gehörte in Begriffe zu fassen. Und für den geneigten Leser mag ja etwas interessantes dabei sein. Zum Beispiel die Antwort auf die Frage: Was, zur Hölle, ist Kairos?
Die Keynote am ersten Abend wurde von Prof. Dr. Dr. Felix Unger gehalten. Das ist der Mann, der das erste künstliche Herz in Europa eingepflanzt hat. Sein Credo ist schon seit Jahren, dass bei allen wissenschaftlichen Bestrebungen in der Medizin nicht vergessen werden darf, dass die Zuwendung zum Patienten ein wesentlicher Heilungsfaktor ist und als solcher durch nichts ersetzt werden kann. Sein Vortrag Next Europe - die Zukunft Europas war aber etwas enttäuschend.
Das liegt gar nicht so sehr an ihm selbst, den ich als einen lebendigen, engagierten Referenten erlebt habe. Es liegt an dem, was er sich alles für den Vortrag vorgenommen hat. Am Ende kam das eigentliche Thema ein wenig kurz (wie eigentlich alles in diesem Vortrag) und wir mussten uns mit 3-4 Folien zufrieden geben zu dem, was die Wissenschaftler aus dem Umkreis der Europäischen Akademie der Wissenschaften, der er vorsteht, sich zum Thema Europa so überlegt haben.
Aber auch ein enttäuschender Vortrag kann Inspirationen geben. So hat er von Hannah Arendt überliefert, dass sie gesagt haben soll, nach der Monarchie, der Oligarchie und der Demokratie ist die schlimmstmögliche Form des Umgangs untereinander, den Menschen entwickelt haben, die Bürokratie. Er stehe für ein "warmes" Europa ein, was letztlich heißt, dass Europa ein politisches Gebilde sein sollte, mit dem sich Menschen identifizieren können. Statt dessen erlebt er das "kalte" Europa, in dem wesenlose Bürokraten Entscheidungen treffen. Das warme Europa drückt sich auch in der Toleranz-Charta der Europäischen Akademie der Wissenschaften aus, die auf dem Kernsatz beruht:
Für die Würde des Anderen einstehen
Das war so ziemlich alles zum Thema Europa. Aber er erklärte auch sehr schön die Figur Kairos, den jüngsten Sohn von Zeus. Kairos hat vorne einen Schopf und ist am Hinterkopf kahl. Wenn Kairos auf jemanden zukommt, kann er ihn im sprichwörtlichen Sinn am Schopf packen. Ist er einmal vorbei, so ist die Gelegenheit verpasst, denn von hinten bekommt niemand Kairos zu fassen. Kairos trägt ein Messer, an dem eine Waage hängt. Er sagt von sich, dass er schärfer als das Messer sei, was man so interpretieren kann, als dass er auf des Messers Schneide wandelt. Das ist ein sehr schönes Bild für die Situationen, in denen Kairos wichtig wird. Man könnte das Bild in modernen Begriffen so fassen: In der Situation der Krise die Gelegenheit beim Schopf packen.
Er hat uns auch auf den Begriff der Epikie hingewiesen, den ich bislang als solchen nicht kannte. Und auf das Dreieck von Chronos, Aion und Kairos: die Zeit in ihrem Fluss, das Zeitalter bzw. die Ewigkeit, und der Moment.
Das sind sehr schöne, gehaltvolle Bilder, mit denen die Menschen heute nicht mehr viel anfangen können. Dabei wäre doch die Demokratie eine Gesellschaftsform, in der die Liebe zum Wissen (die Philosophie) die Basis einer ständigen Diskussion über die Gesellschaft sein sollte. Dabei ist es wichtig und hilfreich, auf solch starke Bilder mit ihrer Fülle an Bedeutung zurückgreifen zu können. Es wäre vordringlichste Aufgabe der Gesellschaft, die Fähigkeit dazu auf breiter Basis zu kultivieren. Das ist jetzt nicht von Herrn Unger, aber das ist es, was ich aus seinem Vortrag mitgenommen habe.
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