Was mich nach Hamburg umtreibt

Sonntag, 09.07.2017

Mirko Matytschak

In Hamburg hat es gewaltig gekracht und es ist erstaunlich, dass man sogar die Berliner Zeitung zitieren kann, wenn es klare Worte braucht, um die Verantwortung der Polizei und der politischen Sicherheitsfanatiker an dieser Eskalation der Gewalt auszudrücken. Aber mich treiben andere Gedanken um: Was haben brennende Autos mit der Vision von einer neuen, besseren Gesellschaft zu tun?

Seit meinen frühen zwanziger Jahren bin ich dem Anarchismus zugetan. Mir gefiel das bunte Treiben der Sponti-Bewegung, die als Kontrast zu der steifen kleinbürgerlichen nazigefärbten Welt eine unwiderstehliche Anziehungskraft hatte: Weil sie im Gegensatz zu den K-Gruppen keine starren Regeln aufstellte, was wir zu denken hatten, weil sie offen war, weil sie einen Hang zu geiler Musik und kreativen Aktionen hatte. Unsere Vorbilder waren Bands wie Embryo, weil sie die Überzeugung ins wirkliche Leben brachten, dass der Austausch der Kulturen Frieden stiftet. 

Als Anarchist war man sich klar darüber, dass es nicht ausreicht, am Kapitalismus herumzuflicken, um ihn etwas sozialverträglicher zu machen. Die Gesellschaft sollte von der Wurzel her (=radikal) verändert werden. Aber es gab eine wichtige Regel, die von der anarchistischen Gewerkschaftsbewegung in Spanien (Stichwort Anarchosyndikalismus) als Leitmotiv verstanden wurde und in der sie sich auch scharf von den kommunistischen Bewegungen abgrenzte:

Der Zweck heiligt nicht die Mittel. Der Weg zum Anarchismus und alle Zwischenstufen dahin sollten soweit wie möglich die Merkmale der Gesellschaft tragen, die von der Bewegung angestrebt wurde.

Die „Diktatur des Proletariats“ war zum Beispiel nicht vereinbar mit den anarchistischen Prinzipien, ganz einfach, weil die Diktatur kein Merkmal der Gesellschaft war, die sie erzielen wollten. Der Terror der RAF war mit den anarchistischen Prinzipien nicht vereinbar, weil die Anarchisten der 70er Jahre keine Gesellschaft von Mördern und Heckenschützen etablieren wollten.

Natürlich gab es auch damals Aktionen nach dem Motto: Macht kaputt, was euch kaputt macht. Aber das hatte klare Grenzen und diese sind wunderschön beschrieben in einem Gedicht von Erich Mühsam:

Der Revoluzzer
War einmal ein Revoluzzer,
im Zivilstand Lampenputzer;
ging im Revoluzzerschritt
mit den Revoluzzern mit.

Und er schrie: "Ich revolüzze!"
Und die Revoluzzermütze
schob er auf das linke Ohr,
kam sich höchst gefährlich vor.

Doch die Revoluzzer schritten
mitten in der Straßen Mitten,
wo er sonsten unverdrutzt
alle Gaslaternen putzt.

Sie vom Boden zu entfernen,
rupfte man die Gaslaternen
aus dem Straßenpflaster aus,
zwecks des Barrikadenbaus.

Aber unser Revoluzzer
schrie: "Ich bin der Lampenputzer
dieses guten Leuchtelichts.
Bitte, bitte, tut ihm nichts! 

Wenn wir ihn' das Licht ausdrehen,
kann kein Bürger nichts mehr sehen.
Laßt die Lampen stehn, ich bitt! ­
Denn sonst spiel ich nicht mehr mit!" 

Doch die Revoluzzer lachten,
und die Gaslaternen krachten,
und der Lampenputzer schlich
fort und weinte bitterlich.

Dann ist er zu Haus geblieben
und hat dort ein Buch geschrieben:
nämlich, wie man revoluzzt
und dabei doch Lampen putzt.

Es geht um die simple Frage: Wenn wir politisch aktiv sind, wie verhalten wir uns dann in dieser Aktivität? Spiegelt unser Verhalten untereinander die Merkmale der Gesellschaft, die wir erzielen wollen? Welche Botschaft senden wir mit unserem Verhalten und unseren Aktionen nach außen? Wen erreichen wir damit?

Autonome oder nützliche Idioten?

Wenn ich mir heute so anschaue, was sogenannte Linksautonome oder sogenannte Antifaschisten so an politischer Aktion an den Tag legen, muss ich ganz klar sagen: Ich möchte nicht in einer Gesellschaft leben, in der diese Leute das Sagen haben.

Wenn Horden von Linksautonomen durch Hamburg ziehen und Autos anzünden, wie in diesem Video gezeigt,  frage ich mich: Wen soll diese Form von Aktion anziehen? Wer soll dadurch überzeugt werden, „linke“ Positionen zu vertreten? Wenn ich mir die Veröffentlichung über die Aktivitäten der Geheimdienste und Geheimarmeen in den letzten Dekaden ins Gedächtnis rufe, dann scheint es mir plausibler, die Autonomen als eine Kreation der Geheimdienste zu betrachten, als dass es tatsächlich links orientierte Menschen gibt, die sich zu solch einem Schwachsinn hinreißen ließen. Aber die Wahrheit ist: schwachsinnige Hooligans gibt es in allen Kreisen und so trägt sich dieses Phänomen möglicherweise fast ohne äußeres Zutun.

Diese Leute haben leider nicht die geistige Kapazität, die Folgen ihres Handelns zu überdenken. Und damit machen sie sich zu nützlichen Idioten: der Geheimdienste, die selbst keinen Krawall mehr anzetteln müssen und der globalen Konzerne und Banken, die in Ruhe die Welt nach ihrem Gusto gestalten, weil es niemanden gibt, der eine fundierte und radikale Kritik am Kapitalismus äußern kann, ohne in einem Atemzug mit diesen Idioten* genannt zu werden.

Antifa oder nützliche Idioten?

Besser wird’s auch nicht in der Welt, wenn sich sogenannte Antifaschisten faschistischer Methoden bedienen, um sich einen Kleinkrieg zu liefern mit Rechten und solchen, die sie dafür halten. Da wird auf Twitter gepostet, wo man wieder ein paar Rechte gesichtet hat und diese kriegen dann von irgendwelchen gewaltbereiten Horden ein’s auf’s Maul.

Und die wirklichen Rechten sind natürlich auch nicht auf der Brennsuppn dahergeschwommen. Sie nutzen die gleichen Methoden, um ihre Gegner zu outen. Wer nun diesen Krieg angefangen hat, wird sich nicht mehr ermitteln lassen. Stand der Dinge ist: Reaktion folgt auf Aktion – und zwar von beiden Seiten in einer Spirale. (Das ganze ist hier gut zusammengefasst.)

Mit welchem Ziel? Wohin wollen die mit diesen Aktionen? Möchte irgendjemand in einer Gesellschaft leben, in der „rechtschaffene“ Antifaschisten Meinungsäußerungen kontrollieren, und jedem die Meinungsfreiheit beschneiden, den sie für Rechts halten? Was nützt Antifaschismus, wenn er – fortgeschrieben – im Faschismus endet?

Eine Einsicht, die wir in unseren frühen anarchistischen Tagen miteinander geteilt haben ist:

Eine freie Gesellschaft zeichnet sich dadurch aus, dass sie Menschen gestattet, gegen die Freiheit zu sein.

Und so müsste eigentlich eine Asymmetrie in dieser Auseinandersetzung entstehen. Die Linken sollten nicht mit den Methoden der Rechten arbeiten.

Seid keine Idioten. Hört auf, Kriege zu führen, wenn Ihr eine Gesellschaft ohne Krieg schaffen wollt. Bemüht Euch lieber um die Gestaltung dessen, was ihr schaffen wollt. Ihr werdet feststellen, dass Eure Vision von einer freien, bunten, kulturell vielfältigen, ekstatisch gelebten Welt eine sehr große Attraktivität auf die Menschen ausübt. Damit erzeugt Ihr politische Wirksamkeit.

Das führt zu der Einsicht, dass alles Handeln politisch ist und dass politische Wirksamkeit nicht notgedrungen auf der Straße in politischen Pamphleten oder in der Bekämpfung des politischen Gegners entsteht, sondern dass es sehr viele Wege gibt, wie man Menschen von einer neuen, freieren Gesellschaft überzeugen kann. Dem werden die paar Unverbesserlichen nichts entgegenzusetzen haben, denen ihr heute mit Euren Kriegen Bedeutung zukommen lasst.

Update

Ich erhalte hier gerade einen Einwand mit dem Hinweis, dass die ganze Geschichte inszeniert sein könnte:

Da mischen sich also internationale Rechte unter die Demonstranten, wieso kann es denn nicht sein, dass solche Gestalten die Randale im Schanzenviertel maßgeblich inszenieren.
...

dass der schwarze Block seine Vermummung ablegt und die Polizei prügelt auf die nicht Vermummten um so doller. D.h. Die Einsatzkräfte gießen Öl ins Feuer, dann braucht's noch ein paar Agenten, um die Inszenierung komplett zu machen.

So kann man das Geschehene auch deuten.

Es ist auch klar, dass es die von Dir beschriebenen Idioten gibt, die sich blind provozieren lassen und brandschatzend durch das Schanzenviertel ziehen. Aber solche [...] Gestalten lassen sich leicht steuern. 

Aber Belege dafür habe ich keine. [...] Also es ist auch reine Spekulation meinerseits.

Wir sind hier alle auf Spekulationen angewiesen. Meine Meinung ist, dass die Autonomen vom ersten Tag an eine Schöpfung bestimmter Kreise des Verfassungsschutzes waren - und das deute ich oben auch an. Das erscheint logisch, wenn man sich die Muster von Infiltrationen anschaut, die in der Vergangenheit aufgedeckt worden sind. Ich bin jetzt gerade zeitlich nicht in der Lage, Quellen herauszusuchen, aber ich nehme es als gesichert, dass Randale im rechten und linken Spektrum inszeniert wurde, um die bestehenden Verhältnisse als "goldene Mitte" präsentieren zu können.

Ausgehend davon lässt sich folgendes Gedankenspiel anschließen: Wenn so eine Randale tatsächlich inszeniert wird, dann muss es so geschehen, dass der Kreis der Wissenden sehr klein ist. Sonst gibt es immer einen, der früher oder später auspackt. Das will man nicht und das ist ja auch nahezu nie geschehen. Nehmen wir einmal an, es gäbe ein Team beim Verfassungsschutz, das Randale inszenieren will, und ein oder zwei V-Leute, die von diesem Team Instruktionen entgegennehmen. Die gehen dann in bestimmte Kreise und sagen: "Mensch, man müsste mal eine richtig fette Aktion fahren". Und nun kommt das, was ich mit meinem Blogbeitrag meine und was mich bestürzt: Ab diesem Punkt läuft die Sache von selbst.

Die rechten Publizisten in Hamburg waren nicht aufgrund einer Verschwörung da, sie waren da, weil alle wussten, dass sich höchstwahrscheinlich gewisse Kreise von der Polizei würden provozieren lassen.

In den 70ern wäre es denkbar gewesen, dass auf die massive Aufforderung der Polizei, die Vermummung fallen zu lassen, sich ein Großteil der Demonstranten nackt ausgezogen hätte. Vielleicht wäre das als "politische Folklore" abgetan worden, aber es hätte dem unsäglichen Herrn Wendt den Wind aus den Segeln genommen, der da sagt:

„Rot-Grün und Herr Scholz stellen die Schanze als hanseatische Folklore dar, aber das ist sie nicht“. Dort habe sich seit geraumer Zeit ein „rechtsfreier Raum entwickelt". Quelle

Falls es irgendjemand noch nicht weiß: Der sogenannte "rechtsfreie Raum" ist der Raum, der noch nicht von Leuten wie Herrn Wendt lückenlos kontrolliert wird. Fazit: für die Rechten inclusive Herrn Wendt ist die Rechnung aufgegangen. Und das muss sich ändern. Und jetzt könnt Ihr alle überlegen, wie.

Interessanter Link zum G8-Gipfel 2007

Wer hat geplündert?

Update 11.07.2018: Link zu Vice über "Hooligans" entfernt, da die Site von Scripts gekapert wird, die über Werbenetzwerke eingespielt werden.

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*Der Idiot steht hier im Wortsinn für den uninteressierten Menschen. Zitat Wikipedia: "Man wurde als Idiot geboren und blieb es, wenn nicht Erziehung und Bildung den politisch bewussten Bürger schufen."

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