Kommt raus aus den Schützengräben!
Sonntag, 28.03.2021
In meinem Beitrag von gestern habe ich einen parteipolitischen Graben konstruiert, der beim näheren Hinsehen zwar ein Graben bleibt, aber nicht unbedingt mit der Parteipolitik zu tun hat.
Als die Pandemie begann, habe ich einen Artikel geschrieben, der dazu gedacht war, die hitzig geführte Diskussion über Vorsorge-Maßnahmen etwas zu versachlichen, in dem ich ein paar einfache mathematische Grundlagen erklärt habe. Ich habe mir dabei erlaubt, ein paar der damals im Umlauf begriffenen Argumente an diesen Grundlagen zu messen.
Dabei war es nicht meine Absicht, mich mit meinem Beitrag auf die Seite irgendeines Lagers zu stellen*. Auch andere Posts aus der Zeit, wie die Berechung von R oder die Programmierung des SIR-Modells in C#, sollten allen Parteien im Diskurs gleichermaßen dienen.
Argumente als Signal
Der Artikel über Corona-Mathematik wurde in einer Diskussion im Heise-Forum verlinkt und schon waren etliche Besucher auf der Website meiner Firma. An den Kommentaren, die sie hinterließen, war klar zu erkennen: Wenn ich mich selbst auch auf keiner Seite sah, wussten die Anderen durchaus, wie sie meine Standpunkte und damit meine Person zu verorten hatten – und zwar sahen mich Gegner und Befürworter der Maßnahmen in der gleichen Gruppe.
Ich musste lernen, dass Standpunkte nicht als solche betrachtet werden, sondern als Signale in einer Art Virtue Signaling, das nicht von mir ausgeht, sondern von anderen in meine Äußerungen interpretiert wird.
Mein Beitrag gestern ging von einer Idee aus, die von Wissenschaftlern ausgearbeitet und von Herrn Drosten in einem Vortrag formuliert wurde, und zwar als "Inkubation", die die Wissenschaft an die Politik als Entscheidungsgrundlage weitergibt. Die Idee ist, die Chance zu nutzen, die sich durch das Freitesten von Personen bietet, die Ihre Verwandten im Pflegeheim besuchen oder an bestimmten Veranstaltungen teilnehmen wollen.
Wie eine Idee verbrannt wird
Auch wenn die Idee wohlbegründet war, fehlten doch konkrete Zahlen dazu. Ein Modellversuch musste her. Nun ist es so, dass die Idee just von dem schillernden Boris Palmer aufgegriffen worden ist (genauer: Das Engagement ging von Lisa Federle aus, mit politischer Unterstützung von Boris Palmer).
Und mein Eindruck ist, dass das Engagement in Modellversuchen zu dem Thema dadurch erheblich gehemmt wurde. Es wirkt so, als ob die Personen, die sich öffentlich mit diesem Modell auseinandersetzten, automatisch zu einem Lager gezählt werden, zu dem andere wiederum nicht gezählt werden wollen. Ich habe vor kurzem schon einmal klar gemacht, dass ich diese Art an Rücksichtnahme für das Ende der Wissenschaft halte.
Das Tübinger Modell erhält seit ein paar Tagen Rückenwind von der Presse und es steht zu erwarten, dass mehr Politiker diesen Rückenwind für sich nutzen wollen.
Nun hat ein guter Freund einen Kommentar auf meinen Beitrag von gestern geschrieben. Dort findet sich ein Link auf einen Thread von Tweets einer gewissen Frau Stahlhut.
Bullshit-Kritik
Fangen wir mal oben im Thread an. Hier sehen wir ein Diagramm des Inzidenzverlaufs, das einen Verlauf im eher unteren Durchschnitt zeigt, mit den üblichen Steigungen ab Mitte März**. Darunter eine Grafik mit den Inzidenzen über die Zeit, aufgeschlüsselt nach Alter. Das zusammen mit dem Kommentar, dass man dort Inzidenzen in der Altersgruppe > 80 von jenseits der 340 findet.
Ihr könnt selbst nachsehen, wann Tübingen mit seinem Modellversuch begonnen hat. Ab November hat man Besucher von Alten- und Pflegeheimen freigetestet, sowie kostenlose Schnelltests angeboten.
Wer wird ernsthaft erwarten, dass die Inzidenzen innerhalb von wenigen Wochen spürbar heruntergehen? Wenn Frau Federle sagt, dass die Tests von November bis Februar 350 positive Fälle ermittelt haben, ist das noch nicht ein Ausmaß, das auf das Ende der Pandemie hoffen lässt. Aber es ist ein Argument dafür, die Tests auszuweiten.
Was mir an dem Thread von Frau Stahlhut aufstößt, ist der Begriff „hochgelobt“. Damit will sie uns natürlich nicht sagen, dass sie das Lob teilt, sondern, dass sie es blöd findet, dass sich gerade der Herr Palmer mit diesem Projekt so schmückt. Da kann ich mit Carl von Ossietzky nur sagen: „Warum schreibste det nich?“ (Die Kritik ging übrigens an keinen geringeren als Kurt Tucholsky.)
Ein Argument, das dem falschen Lager dient
Statt dessen müssen die Inzidenzen vom Dezember herhalten. Wenn ich jetzt die Grafik so interpretiere, dass die Inzidenzen in der Altersgruppe > 70 in jüngster Zeit deutlich in Richtung 0 tendieren, gehöre ich dann zu den Palmer-Fanboys? Gehöre ich dann ins Lager der Öffnungs-Befürworter, die vom Lager der No- und Zero-Covid-Verfechter zum Abschuss freigegeben sind? Soll ich den Satz zurückhalten, weil er dem falschen Lager dient?
Weiter geht es im Thread mit dem Thema "Aufbereitung der Zahlen". Laut Aussage von Frau Stahlhut gibt es wohl Kreise, die das besser hinbekommen. Zugegeben, das Veröffentlichen von Pdfs ist nicht gerade sexy. Da gibt es Luft nach oben. Die Aufbereitung der Zahlen sind Sache der Gesundheitsämter und die werden finanziert und geleitet vom Sozialministerium in BW.
Wenn Frau Stahlhut aber wirklich schlecht aufbereitete Zahlen sehen will, kann sie sich am Landkreis Landshut versuchen. Ich habe dort noch überhaupt keine Zahlen gefunden.
Aber statt über die schlechte Aufbereitung der Zahlen zu meckern: Wie wäre es mit Teilhabe? Ist Frau Stahlhut nicht ausgezeichnete MINT-Lehrerin? Wie wär’s mit einem Schülerprojekt für die Aufbereitung der Zahlen des Kreises Tübingen? Warum eigentlich nicht? Weil die vom anderen Lager sind? Oder gibt es irgendwelche sachlichen Einwände? Warum werden die nicht geäußert? Dann könnte der Kreis Tübingen es besser machen.
Bis hierhin kann man den Thread vielleicht als etwas unbedacht abtun. Aber dann kommt der Retweet, den ich hier einmal als Screenshot teile. Schaut Euch das Bild an und vergleicht den Kommentar der Frau Stahlhut mit dem, was Ihr auf dem Bild seht. (Der Kommentar von Herrn Konold spricht für sich.)
Die Packungen, die Ihr im Kreis seht, sind der Vorrat an Schnelltests, der gerade von den Helfern verabreicht wird. Ihr seht die Warteschlangen, und man kann annehmen, dass nach links noch eine dritte Schlange ansteht. Der Vorrat auf der Bank ist in maximal 10 Minuten aufgebraucht. Gehen die Helfer dann heim oder holen sie weitere Packungen aus einem Lager, in dem es wärmer ist? Wir wissen es nicht.
Aber für einen Retweet taugt es, weil damit – völlig ohne Beweis – der Eindruck erzeugt werden kann, dass die Tests falsche Negative erzeugen. Das ist kein Diskurs, das ist Stimmungsmache auf BILD-Niveau.
Heizpilz gesucht!
Habt Ihr wirklich Angst um falsch Negative? Wie wär’s mit einem freundlichen Hinweis an die Frau Federle oder die Helfer vor Ort? Oder noch besser, wenn Ihr an einem Ergebnis des Modellversuchs interessiert seid: Wie wär’s, wenn Ihr einen Heizpilz spendiert? Der täte auch den Helfern gut. Vielleicht findet Ihr einen Spender für den Heizpilz?
Es fehlt wissenschaftliche Begleitung? Freiwillige vor!
Und wenn Euch alle Beteiligte an dem Projekt nicht passen und die ganzen Voraussetzungen nicht stimmen: Sorgt dafür, dass das in Eurem Kreis besser gemacht wird. Die Idee kommt nicht von Spinnern, sondern von Wissenschaftlern, und zwar denjenigen, denen in Sachen Corona-Pandemie am meisten Kompetenz zugetraut werden kann. Meine Aufforderung ist: Leistet konstruktive Kritik oder macht es besser. Oder einfach mal Fresse halten.
Denn eins können wir uns in der Pandemie nicht leisten: Grabenkämpfe mit schlechten Argumenten gegen "die andere Seite".
_____
* Natürlich habe ich Position für Vorsorgemaßnahmen und gegen bestimmte Argumente bezogen. Aber das darf nicht mit der Zugehörigkeitserklärung zu bestimmten Gruppen verwechselt werden.
** Stand heute zählt der Kreis Tübingen zur Minderheit der Kreise mit einer Inzidenz < 100. Und weil das zur Verwirrung beiträgt: Die Stadt Tübingen meldet nicht extra. Es gibt also nur die Zahlen des Kreises.
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